Sie beschleunigte ihre Schritte nur noch mehr, rannte den abschüssigen Weg hinab und rief bereits nach ihrer Mutter, noch bevor sie die Hütte erreicht hatte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Stiege hinauf und sprang so ungestüm durch den Eingang, dass sie sich um ein Haar in den Muschelvorhang verheddert hätte und alle Mühe aufbieten musste, um nicht zu stürzen.
Ihre Mutter war nicht da. Die Hütte war leer, und Arri war nur im allerersten Moment enttäuscht, dann aber eindeutig beunruhigt. Seit dem letzten Zusammenstoß mit Sarn verließ ihre Mutter ihr Zuhause so gut wie gar nicht mehr - zumindest nicht tagsüber - und erst recht nicht, ohne ihr vorher Bescheid zu geben; so, wie sie umgekehrt auch Arri eingeschärft hatte, nirgendwo allein hinzugehen, wenn sie nichts davon wusste. Aus ihrem Hochgefühl wurde schlagartig eine vollkommen übertriebene Sorge. War irgendetwas geschehen?
Arri warf einen flüchtigen Blick in den zweiten Raum - immerhin wäre es ja möglich gewesen, dass ihre Mutter dort war, um ein neues Heilmittel für Kron zusammenzumischen -, dann verließ sie die Hütte fast ebenso rasch wieder, wie sie hereingekommen war, und sah sich hilflos um. Plötzlich hatte sie Angst, und sie konnte nicht einmal genau sagen, warum oder gar wovor. Sie versuchte vergeblich, sich selbst einzureden, dass sie sich albern benahm; schließlich war sie kein kleines Kind mehr, dem man es nachsehen konnte, dass es vor Angst zu weinen anfing, wenn es im Dunkeln aufwachte und seine Mutter nicht gleich sah. Lea war vielleicht nur in den Wald gegangen, um ein paar Kräuter zu suchen, oder hinauf ins Dorf, um Eier oder Fleisch einzutauschen. Zweifellos würde sie binnen kurzem wieder hier sein; wenn es sich anders verhielte, so hätte sie ihr gewiss Bescheid gesagt, bevor sie sie zu Kron schickte.
Diese Gedanken mochten treffend und richtig sein, aber sie halfen nicht. Ganz im Gegenteil begann Arris Herz immer heftiger zu klopfen, und ihre Furcht nahm noch zu. Sie fühlte sich verloren und so einsam und hilflos, als wäre sie mitten in der Nacht allein im Wald ausgesetzt worden. Dieses Gefühl war durch und durch albern und geradezu kindisch, aber auch dieser Gedanke half nicht. Aus ihrer Furcht drohte ganz im Gegenteil Panik zu werden - und wäre es vielleicht auch geworden, hätte sie sich nicht in diesem Moment umgedreht und ihre Mutter gesehen, die soeben gebückt und mit sehr schnellen Schritten aus der Hütte des Blinden kam.
Arri verschwendete nicht einmal einen einzigen Gedanken an die Frage, was ihre Mutter ausgerechnet dort tat, sondern rannte los und konnte sich gerade noch beherrschen, ihre Mutter nicht erleichtert in die Arme zu schließen, als sie endlich bei ihr angelangte.
»Arri?«, murmelte ihre Mutter überrascht. »Ist etwas passiert?« Sie wirkte verwirrt und auch ein ganz kleines bisschen beunruhigt. Arris aufgewühlter Zustand war ihr nicht entgangen.
»Kron«, sagte sie.
»Kron?«, wiederholte ihre Mutter. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Augen. »Was ist mit ihm?«
»Er ist... aufgewacht«, antwortete Arri stockend.
»Und was ist daran so Besonderes?«, wollte ihre Mutter wissen. »Bisher ist er doch eigentlich jeden Morgen aufgewacht, oder?«
Arri zog es vor, nicht weiter auf den spöttischen Unterton in der Stimme ihrer Mutter zu achten. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das meine ich nicht. Er ist aufgestanden. Aus eigener Kraft.«
»Und das ist auch wirklich alles?«, vergewisserte sich ihre Mutter. Arri sah ihr an, dass sie sich Mühe gab, nicht zornig zu klingen.
»Er wird wieder gesund«, antwortete sie. »Er ist ganz von allein aufgestanden und ein paar Schritte weit gelaufen!«
»Das sind gute Neuigkeiten«, sagte ihre Mutter, behielt sie aber weiter aufmerksam im Auge und fügte schließlich mit einem angedeuteten, spöttischen Lächeln hinzu: »Aber so richtig bei Kräften ist er anscheinend noch nicht. Sonst wäre er zweifellos längst hier aufgetaucht, um mir den Hals umzudrehen.«
»Bei mir hat er es jedenfalls schon mal versucht«, sagte Arri. »Aber ich war schneller als er.«
»Dann wollen wir hoffen, dass das auch noch eine Weile so bleibt«, sagte ihre Mutter lachend. »Schließlich brauche ich dich noch. So lange Kron seinen Zorn an dir auslässt, kommt er wenigstens nicht hierher.«
Arri tat ihrer Mutter den Gefallen, über diese Worte zu lachen, aber sie verspürte trotzdem eine leise Enttäuschung. Sie hatte erwartet, dass sie sich mehr über Krons Genesung freuen würde, zumal sie ja einen ungleich größeren Anteil daran hatte als Arri. Sie zerbrach sich den Kopf über eine Antwort, die ihre Mutter nicht verärgern oder gar wütend machen würde, doch sie kam nicht dazu, denn aus der Hütte des Blinden drang Lärm, und nur einen Augenblick später tastete sich der alte Mann mit zitternden Händen ins Freie. »Du bist ja immer noch da«, keifte er. Im ersten Moment war Arri verwirrt, denn die weit offen stehenden, glasigen Augen des Alten blickten genau in ihre Richtung, sodass sie dachte, die Worte gälten ihr, dann aber begriff sie, dass er mit ihrer Mutter sprach. »Du sollst weggehen, habe ich gesagt! Ich will nicht mit dir reden! Du hast mir schon genug angetan! Geh!«
Arris Mutter setzte zu einer Antwort an, und man konnte ihr ansehen, wie scharf sie ausfallen würde - aber dann beließ sie es bei einem bedauernden Achselzucken und gab Arri gleichzeitig mit einer besänftigenden Handbewegung zu verstehen, dass sie schweigen sollte. Der blinde Mann konnte die Geste nicht sehen, aber er schien sie dennoch irgendwie gespürt zu haben, denn seine erloschenen Augen suchten in Arris Richtung und fixierten dann einen Punkt ein gutes Stück neben ihr. »Ist da noch jemand?«, schnappte er. »Wer ist da? Was willst du? Hast du deine Tochter mitgebracht, damit ihr euch gemeinsam über mich lustig machen könnt?«
»Niemand macht sich über dich lustig, Achk«, sagte Lea sanft. »Ich will dir helfen. Ich meine es ernst. Denk einfach ein wenig über meinen Vorschlag nach. Ich komme heute Abend zurück und bringe dir etwas zu essen. Dann kannst du mir immer noch antworten.«
»Du kannst mir etwas zu essen bringen, denn das bist du mir schuldig«, keifte der blinde Mann, »aber es bleibt bei meiner Antwort. Und jetzt geh, nimm dein Balg und verschwinde!«
Arri wollte etwas sagen, aber ihre Mutter wiederholte die hastige, abwehrende Handbewegung und schüttelte darüber hinaus den Kopf. Der blinde Mann keifte weiter mit schriller Stimme hinter ihnen her, als sie sich abwandten und nebeneinander zur Hütte gingen, aber nun kamen nur noch sinnlos brabbelnde Laute über seine Lippen. Was immer er gerade gemeint haben mochte, der klare Moment war vorbei, und Arri spürte, dass es vollkommen zwecklos wäre, ihre Mutter um eine Erklärung zu bitten. Auch das war etwas, was sie zwar nicht erst jetzt, in diesem Moment, aber tatsächlich zum ersten Mal in ganzer Tragweite begriff: Seit dem Tag von Nors Besuch war ihre Mutter immer verschlossener und abwesender geworden, auch ihr gegenüber.
Das, was sie nachts gemeinsam im Wald taten und beredeten, änderte nichts daran, ganz im Gegenteil; je weiter ihre Mutter die Türen der Vergangenheit öffnete und je tiefer der Einblick wurde, den sie Arri in ihr früheres Leben gewährte, desto verschlossener und kälter schien sie tagsüber zu werden. Manchmal hatte Arri das Gefühl, es tatsächlich mit zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben, die sich mit jedem Tag, der verging, noch weiter voneinander entfernten; als wäre die eine Lea, die, an deren Seite sie nun ging, nicht mit dem einverstanden, was die andere sie nachts lehrte und ihr riet. Natürlich war dieser Gedanke verrückt, aber seit dem Tag, an dem der mächtige Hohepriester zu ihnen gekommen war, war überhaupt nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
»Es geht Kron also schon besser«, nahm Lea das unterbrochene Gespräch wieder auf, während sie - langsamer werdend - den Pfad hinunterging. Der blinde Mann schrie immer noch hinter ihnen her, und Lea hatte die Stimme ganz leicht erhoben, wie um ihn zu übertönen - obwohl das nicht wirklich nötig war. Vielmehr hatte Arri das Gefühl, dass sie sie fast krampfhaft davon abhalten wollte, eine bestimmte Frage zu stellen. »Und? Wie gefällt dir das?«