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Arri verstand nicht wirklich, was ihre Mutter wissen wollte, und sah sie nur verwirrt an.

»Wie fühlst du dich dabei?«, meinte Lea. »Immerhin hattest du einen nicht geringen Anteil an seiner Genesung.«

»Das Meiste hast du doch getan«, erwiderte Arri.

»Das wird Kron anders sehen, fürchte ich«, seufzte ihre Mutter. »Und ohne deine Hilfe wäre er bestimmt nicht so bald wieder zu Kräften gekommen.« Sie sah Arri abschätzend an. »Was ist es für ein Gefühl?«

»Was für ein Gefühl?«

»Einem Menschen zu helfen«, erklärte Lea, hob aber auch zugleich abwehrend die Hand, als Arri etwas erwidern wollte. »Ich meine: einem Menschen wirklich zu helfen. Einem Menschen wie Kron, dem du eigentlich nichts schuldig bist und an dessen Schicksal dich auch keine Schuld trifft.«

Arri verstand immer weniger, worauf ihre Mutter eigentlich hinauswollte, und sie wollte dieses Unverständnis gerade in Worte kleiden, da erinnerte sie sich plötzlich an das sonderbare Gefühl, das sie verspürt hatte, als sie vorhin Krons Wunde verbunden hatte, und plötzlich glaubte sie zu verstehen, was ihre Mutter meinte. Es war ein wunderbares Gefühl, einem anderen helfen zu können, auch - und vielleicht sogar gerade - einem Fremden, dem sie diese Hilfe nicht schuldig war. Sie sagte nichts, sondern nickte nur, aber dieses Nicken schien ihrer Mutter Antwort genug zu sein, denn für einen Moment erschien ein Ausdruck ehrlicher Freude in ihren Augen, wie Arri sie schon viel zu lange nicht mehr darin gesehen hatte.

»Ich werde später hinauf zum Steinkreis gehen«, fuhr ihre Mutter fort, wobei sie sowohl das Thema als auch die Tonlage wechselte. »Ich wollte mich dort mit jemandem treffen und möchte, dass du mich begleitest.« Sie warf einen Blick in den Himmel hinauf. »Lauf also nicht mehr allzu weit weg.«

Arri hatte nicht vorgehabt, überhaupt irgendwo hinzulaufen - zumindest nicht, bis ihre Mutter das Wort Steinkreis ausgesprochen hatte. Konnte es sein, dass sie auf irgendeine rätselhafte Weise von ihrer Begegnung mit Sarn in dem alten Heiligtum erfahren hatte? »Mit... mit wem willst du dich denn dort treffen?«, stotterte sie.

»Das wirst du schon noch früh genug sehen«, erwiderte ihre Mutter in einem Ton, der Arri klarmachte, wie sinnlos es war, weiter zu fragen. Das stimmte Arri nicht gerade ruhiger. Ihr schlechtes Gewissen wurde geradezu übermächtig, und als sie die Hütte erreichten, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um vor ihrer Mutter die Stiege hinaufzueilen. Aber Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. »Geh in den Wald und suche noch ein paar Blätter, um Krons Verband zu erneuern. Wenn wir zurück sind, möchte ich mir den Arm selbst ansehen.«

Arri sah ihre Mutter einen Moment lang zweifelnd an - Lea hatte einen Vorrat von bereits gereinigten Blättern im Haus, der ausreichte, um Krons Arm bis zum nächsten Vollmond zu verbinden -, aber sie wandte sich dann gehorsam und mehr als nur ein bisschen beunruhigt um und hatte den Waldrand schon fast erreicht, als ihre Mutter, die bereits auf der obersten Stufe der Stiege stand, noch einmal stehen blieb und ihr nachrief: »Und bring noch ein paar von den braunen Pilzen mit - die mit den gerippten Köpfen.«

»Aber dazu...«, begann Arri.

»Musst du bis zur Quelle, ich weiß«, fiel ihr die Mutter ins Wort. »Ein Grund mehr, dich zu beeilen. Wenn du dich sputest, kannst du rechtzeitig zurück sein. Und nimm genug von den Pilzen. Am besten einen ganzen Korb.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer auffordernden Geste auf den kleinen Anbau neben der Hütte hin, in der sie die Körbe und allerlei anderes Werkzeug sowie verschiedene Gebrauchsgegenstände untergebracht hatte, die sie nicht tagtäglich benötigten, und obwohl sich in ihrem Gesicht nicht ein einziger Muskel rührte, gelang es ihr trotzdem, mit einem Male deutlich unwilliger auszusehen; auf die ganz bestimmte Art, die ein Fremder vielleicht nicht einmal bemerkt hätte, die Arri aber zu der Überzeugung brachte, dass es jetzt eindeutig besser war, nicht noch einmal zu widersprechen.

Trotzdem hätte sie es um ein Haar getan.

Es war nicht der Weg zur Quelle, den sie scheute. Er war nicht so weit, dass er wirklich zur Mühe werden konnte, und seit etlichen Tagen ging sie ihn schließlich jede Nacht. Aber die Pilze? Sie hatte keine Ahnung, wozu ihre Mutter sie plötzlich so dringend brauchte - gewiss nicht, um ein neues Heilmittel für Kron daraus zu machen -, aber sie waren selten und wuchsen nur an einer einzigen Stelle, nämlich zwischen den Felsen auf der Waldlichtung, und auch dort nur in geringer Zahl. Arri glaubte nicht, dass sie auch nur den kleinsten der drei Körbe, die ihre Mutter besaß, voll bekommen würde, selbst wenn sie die Lichtung und ihre gesamte Umgebung absuchte. Ihre Mutter wollte sie wegschicken, und das für eine geraume Zeit, aber warum? Und warum sagte sie nicht einfach, dass sie allein sein wollte?

Missmutig ging sie zum Schuppen, griff sich den kleinsten Korb aus geflochtenen Weidenzweigen und machte sich auf den Weg. Trotz der fast unmöglich zu lösenden Aufgabe, die ihr die Mutter aufgetragen hatte, ließ sie sich Zeit. Sie würde sowieso den Korb kaum zur Hälfte voll bekommen, und sie war darüber hinaus auch sehr sicher, dass Lea die Pilze ganz gewiss nicht nachzählen würde, ganz im Gegenteil - vermutlich würde sie ihnen ebenso wenig Beachtung schenken wie den Blättern, die sie ihr völlig überflüssigerweise zu holen aufgetragen hatte, wenn sie nur lange genug wegblieb, um...

Arri blieb wie vom Donner gerührt stehen, riss die Augen auf und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, als ihr klar wurde, warum ihre Mutter sie weggeschickt hatte und warum sie solchen Wert darauf legte, dass sie auch ja lange genug fortblieb. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sich einen Mann aus dem Dorf holte, um eine Weile mit ihm allein zu sein. Jetzt war ihr auch klar, warum sie so herumgedruckst hatte und sich alle möglichen Vorwände einfallen ließ, statt einfach rundheraus zu sagen, dass sie, Arri, verschwinden und eine ganze Zeit lang nicht wiederkommen sollte. Es hatte also gar nichts mit dem unglückseligen Zusammentreffen mit Sarn im Steinkreis zu tun!

Arri schüttelte den Kopf und ging mit einem leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen weiter - und jetzt sogar schneller, obwohl sie nun sicher war, Zeit zu haben. Ihre Mutter war eine gesunde, alles andere als alte Frau mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen, wie sie jede andere Frau, jeder andere Mann im Dorf auch hatte, aber es war ihr aus irgendeinem Grund peinlich, mit ihrer Tochter über gewisse Dinge des Lebens zu reden - die diese längst wusste. Wahrscheinlich hätte sie der Schlag getroffen, dachte Arri, hätte sie auch nur geahnt, dass ihre Tochter mehr als nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was sie in ihrer Hütte tat, wenn sie Besuch aus dem Dorf bekam. Arri war zwar - zumindest in ihren Augen - noch keine richtige Frau, aber sie war weder blind noch taub oder dumm. Nicht alle im Dorf machten ein so großes Geheimnis um das, was Männer und Frauen (und manchmal auch Frauen und Frauen oder Männer und Männer) miteinander taten, wenn sie allein waren, und die meisten Wände hatten Ritzen, durch die man mühelos hindurchspähen konnte, wenn man nur ein bisschen vorsichtig war.

Auch Arri hatte das schon des öfteren getan, wenn auch mit schlechtem Gewissen und ohne ganz genau zu wissen, warum sie das bei allen Göttern eigentlich tat. Was sie gesehen hatte, hatte sie erregt, auf eine eigentümliche, nicht einmal wirklich angenehme, aber auch ganz gewiss nicht unangenehme Art. Dennoch verstand sie nicht wirklich, was an dieser Sache so besonders war, dass ihre Mutter ein solches Geheimnis daraus machte. Irgendwann - und zwar in nicht allzu ferner Zukunft, so nahm sie sich vor - würde sie ihrer Mutter sagen, dass sie Bescheid wüsste, und sie freute sich jetzt schon auf den betroffenen Ausdruck, der dann unweigerlich auf deren Gesicht erscheinen musste.