In Gedanken versunken, wie sie war, war sie schon tiefer in den Wald eingedrungen, als sie selbst bemerkt hatte. Die Stelle, an der die Heilkräuter wuchsen, hatte sie längst passiert, und sie dachte daran, zurückzugehen und das Versäumte nachzuholen, entschied sich aber dann dagegen. Sie würde weiter zur Lichtung gehen, ein paar von den Pilzen suchen und den Korb dann auf dem Rückweg bis zum Rand mit Blättern füllen, das sah auf jeden Fall besser aus, auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht einmal richtig hinsehen würde.
Sie beschleunigte ihre Schritte und vertrieb sich die restliche Zeit auf dem Weg zur Lichtung, indem sie darüber nachdachte, wer wohl in diesem Augenblick bei ihrer Mutter sein mochte. Die Auswahl war nicht allzu groß. Es gab zwar einige unverheiratete Männer im Dorf, die durchaus Interesse an ihrer Mutter zeigten (und auch ein paar verheiratete), aber Lea war wählerisch, was das anging. Was Arri wiederum nicht wirklich verstand. Ihre Mutter war keine junge Frau mehr, und verglichen mit den meisten anderen Frauen im Dorf - selbst manchen, die deutlich älter waren als sie selbst -, war sie alles andere als eine Schönheit. Aber vielleicht kam es bei dem, was sie da taten, auf Schönheit ja auch nicht an.
Grahl, entschied sie. Grahl wäre ein Mann nach dem Geschmack ihrer Mutter. Dass er ein Weib und einen ganzen Stall voller Kinder hatte, hatte ihn noch nie gestört, und außerdem war er ihrer Mutter etwas schuldig, nachdem sie Kron das Leben gerettet hatte. Arri kicherte albern in sich hinein, als sie sich Sarns Gesicht vorzustellen versuchte, wenn er Grahl und ausgerechnet ihre Mutter in diesem Moment so sehen könnte. Obwohl sie wirklich nicht genau verstand, was daran nun so außergewöhnlich war, ahnte sie doch, dass er vor lauter Wut aus der Haut fahren würde, wenn er davon Wind bekäme.
Sie erreichte die Lichtung und machte sich ohne Eile auf die Suche nach den Pilzen. Natürlich fand sie nicht viele - nicht einmal genug, um auch nur den Boden des Korbes zu füllen -, sodass sie ihre Suche bald ausdehnte und nicht nur die Felsen rings um die Quelle, sondern die gesamte Lichtung mit einbezog. Dennoch wurden es nicht wirklich mehr, sodass sie nach kurzem Zögern entschied, nun tatsächlich auch noch den unmittelbaren Waldrand abzusuchen. Ihr war nicht besonders wohl dabei. Den Weg vom Dorf bis hierher kannte sie, aber sie war niemals weiter als bis zu dieser Lichtung gegangen, und ihre Mutter hatte sie sogar eindringlich davor gewarnt, das zu tun. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, ging in diese Richtung tiefer in den Wald hinein. Das Buschwerk wurde dort so dicht, dass es an vielen Stellen sicherlich kein Durchkommen mehr gab, und da, wo Bäume und Unterholz sich ein wenig lichteten, war der Boden manchmal tückisch; es gab sumpfige Stellen, in denen man stecken bleiben konnte, und angeblich auch Treibsand, in dem ein Mensch binnen kurzem einfach versinken konnte, ohne jemals wieder gesehen zu werden.
Arri lächelte, um sich selbst Mut zu machen, setzte einen Fuß in den Wald hinein und blieb wieder stehen, als es irgendwo im dichten Unterholz vor ihr knackte. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und ihre Hände zitterten, während der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen das Muster aus braunen und grünen Schatten und ineinander gekrallten Umrissen vor ihr absuchte. War da nicht eine Bewegung gewesen? Und hatte sie nicht plötzlich ganz deutlich das Gefühl, beobachtet und aus riesigen, lauernden Augen angestarrt zu werden?
Arri beschimpfte sich selbst in Gedanken - jetzt benahm sie sich tatsächlich wie das dumme kleine Kind, als das ihre Mutter sie manchmal betrachtete. Da war nichts. Was ihr Angst machte, waren einzig die albernen Geschichten, die man sich über diesen Teil des Waldes erzählte und an die vermutlich niemand glaubte. Schon, weil noch niemand in diesem Teil des Waldes gewesen war und also auch niemand wissen konnte, wie es darin aussah. Dieser Gedanke sollte sie eigentlich beruhigen, sonderbarerweise verfehlte er seine Wirkung jedoch vollständig. Ganz im Gegenteil raste ihr Herz jetzt geradezu, und sie hatte deutlich das Gefühl, angestarrt zu werden. Um ein Haar hätte sie gerufen und gefragt, ob dort jemand sei. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, der, dass sie Angst davor hatte, eine Antwort zu bekommen.
Hastig fuhr sich Arri mit der Zungenspitze über die Lippen, warf einen unsicheren Blick in den grob geflochtenen Korb, dessen Henkel sie mit beiden Händen so fest umklammert hielt, dass alles Blut aus ihren Fingern gewichen war, und stellte betrübt fest, dass sich kaum eine Hand voll kümmerlicher Pilze darin befand. Ihre Mutter würde nicht begeistert sein. Für einen Moment fochten Angst und Vernunft einen stummen Kampf hinter ihrer Stirn aus, aber die Angst gewann. Rasch drehte sich Arri um, ging zu dem Felsen zurück und verfiel schließlich in einen raschen Laufschritt, in dem sie die Lichtung überquerte. Sie wurde erst langsamer, als sie in den Wald auf der gegenüberliegenden Seite eindrang und Unterholz und Gestrüpp so dicht wurden, dass sie sich gezwungen sah, ihre Schritte ein wenig zu verlangsamen.
Hinter ihr knackte etwas. Das Geräusch eines Astes, der unter einem Fuß oder einer Pfote zerbrochen war. Ihre außer Rand und Band geratene Phantasie sorgte dafür, dass die dazu passenden Bilder vor ihrem inneren Auge erschienen, ganz egal, wie sehr sie sich auch dagegen zu wehren versuchte. Vielleicht nur, um sich selbst davon zu überzeugen, dass da rein gar nichts war, was sie fürchten musste, drehte sie sich um - und fuhr so heftig zusammen, dass sie um ein Haar ihren Korb fallen gelassen hätte.
Diesmal hatte sie den Schatten gesehen. Er war nicht einmal allzu weit hinter ihr gewesen; klein und geduckt und zu schnell, um ihn wirklich erkennen zu können, aber eindeutig da.
Arris Hände zitterten plötzlich so heftig, dass sie Mühe hatte, den Korb zu halten, und auch ihre Knie begannen zu schlackern. Was war das gewesen? Ein Kaninchen oder ein Fuchs? Nein, dafür war der Schatten zu groß gewesen, zugleich aber auch zu klein für einen Bären oder einen Menschen. Vielleicht ein wildernder Hund?
Plötzlich musste Arri wieder an das denken, was ihre Mutter ihr über Wölfe erzählt hatte. Sie hatte es nicht geglaubt, aber mit einem Mal war sie sich gar nicht mehr so sicher, dass sich Lea diese Geschichte tatsächlich nur ausgedacht hatte, um sie von eigenmächtigen Spaziergängen in die Wälder abzuhalten.
Arri lauschte angestrengt. Ihr Herz hämmerte viel zu laut, als dass sie auch nur das geringste andere Geräusch hätte wahrnehmen können, und ihre Angst gaukelte ihr Bewegungen vor, wo keine waren. Dann aber hörte sie erneut das Knacken eines trockenen Astes, gefolgt von dem Geräusch großer, schwerer Pfoten auf trockenem Laub, und einen Laut, der ihr schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: ein tiefes Knurren.
Arri fuhr mit einem Schrei auf den Lippen herum, ließ den Korb fallen und stürmte davon. Etwas antwortete auf ihren Schrei, tief, drohend und ungemein gierig. Aus dem vorsichtigen Tappen schwerer Pfoten wurde ein rasendes Trommeln, das entsetzlich schnell näher kam, und sie spürte die Gefahr, noch bevor der Schatten in ihren Augenwinkeln auftauchte und sie sich instinktiv fallen ließ. Etwas streifte ihre Schulter und machte aus ihrem noch halbwegs kontrollierten Sturz einen Schlag, der sie mit solcher Wucht auf den weichen Waldboden schmetterte, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde und sich ihr gellender Angstschrei in ein halb ersticktes Keuchen verwandelte. Schmerz flackerte wie eine Folge kleiner gelber Blitze über ihre Augen und machte sie für einen Moment fast blind; dann bemerkte sie beinahe überrascht, wie ihr Körper gänzlich ohne ihr Zutun reagierte und sich herumwarf, um dem vernichtenden Sturz die allergrößte Wucht zu nehmen.