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Es war dennoch so schlimm, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor. Hilflos rollte sie über den nicht nur mit weichem Laub, sondern auch mit spitzen Steinen und gefährlich zerbrochenen Ästen übersäten Waldboden, überschlug sich drei-, vier-, fünfmal und wäre vermutlich noch weiter gerollt, hätte nicht ein dorniger Busch ihrer Schlitterpartie ein unsanftes Ende bereitet. Etwas schrammte über ihr Gesicht und hinterließ eine dünne, nasse Linie, die schon im nächsten Augenblick heftig brannte, und abermals zuckten grelle Schmerzblitze über ihr Blickfeld und hinterließen eine Spur aus wattiger Schwärze, die sie im ersten Moment vergeblich wegzublinzeln versuchte.

Als sich ihre Sinne wieder klärten, erklang das Knurren erneut. Arri zwang sich mit aller Willenskraft, die sie noch aufbringen konnte, die Augen zu öffnen und den Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen, und sie sah ihre schlimmsten Befürchtungen nicht erfüllt, sondern übertroffen.

Es war ein Wolf - der mit Abstand größte und hässlichste Wolf, den sie jemals gesehen hatte. Das Ungeheuer war nahezu so groß wie ein Kalb und hatte ein schwarz-grau geflecktes, struppiges Fell. Seine Zähne, von denen schaumiger Geifer troff und die zu einem drohenden Knurren gebleckt waren, mussten annähernd so lang wie ihr kleiner Finger sein, und seine Augen starrten sie mit einer Gier an, die Arri auch noch das letzte bisschen Mut nahm.

Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Das Tier war riesig. Viel größer als jeder Hund, den sie je gesehen hatte, und hundertmal wilder, aber es war auch nahezu zum Skelett abgemagert. Unter seinem struppigen, von zahllosen Geschwüren und nässenden Wunden durchlöcherten Fell stachen die Rippen hervor. Eines seiner Ohren war abgerissen, und die Wunde war so entzündet, dass sie in einem dunklen Rot zu leuchten schien, und selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri den üblen Geruch wahrnehmen, den das Tier verströmte. Ein Geruch, der sie an Krons Arm erinnerte, als er zu ihrer Mutter gekommen war. Der angeschlagene Gigant schien Mühe zu haben, in die Höhe zu kommen. Sein missglückter Angriff hatte Arri von den Füßen gefegt, aber der Wolf war ebenfalls gestürzt und versuchte nun vergeblich, wieder auf alle viere zu kommen. Erst nach dem dritten oder vierten Anlauf gelang es ihm, zitternd aufzustehen und einen Schritt zu machen. Und es war nur ein Wolf ohne die Begleitung eines ganzen Rudels.

Arri schöpfte Hoffnung. Sie war noch immer wie benommen vor Angst und zitterte am ganzen Leib, aber zugleich war da auch eine unhörbare Stimme in ihr, die die Lage ganz nüchtern betrachtete und den Wolf mit einem einzigen Blick einschätzte. Das Tier war verletzt und krank, vermutlich ein Einzelgänger, den das Rudel ausgestoßen hatte und der nun verzweifelt versuchte, allein zu überleben, und schon mehr tot als lebendig war; halb verhungert und so schlimm verletzt, dass er wohl kaum noch länger als ein paar Tage zu leben hatte. Das machte den Wolf nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil - und doch schöpfte Arri neuen Mut. Wenn sie ein bisschen Glück hatte und nicht in Panik verfiel, kam sie vielleicht doch noch mit dem Leben davon.

Als hätte der Wolf ihre Gedanken gelesen, kam er nicht mehr näher, sondern fletschte nur noch drohender die Zähne. Der üble Geruch, der von ihm ausging, wurde stärker, aber Arri sah auch, wie heftig seine Flanken zitterten. Als er den nächsten Schritt in ihre Richtung tat, brach er in den Hinterläufen ein und hielt sich nur noch mit Mühe überhaupt auf den Beinen.

Sie beging dennoch nicht den Fehler, dieses Tier zu unterschätzen. Verwundete Raubtiere waren die gefährlichsten, denn sie hatten nichts mehr zu verlieren.

Ohne dass ihr Blick die blutunterlaufenen, entzündeten Augen des Wolfs auch nur für einen Moment losließ, stemmte sie sich halb in die Höhe und tastete zugleich mit der rechten Hand über den Boden. Sie fand einen faustgroßen, glatten Stein, nahm ihn aber nicht auf, sondern suchte weiter und ertastete schließlich einen abgebrochenen Ast, den sie fest mit den Fingern umschloss. Der Wolf knurrte drohend, als ahne er, was sie vorhatte, und kam einen weiteren, unsicheren Schritt näher. Arri hatte Mühe zu atmen. Sie zitterte am ganzen Leib und so heftig, dass es ihr beim ersten Versuch nicht einmal wirklich gelang, den Stock zu ergreifen, und nachdem sie es geschafft hatte, musste sie ihn zu Hilfe nehmen, um sich auf die Beine zu stemmen.

Der Wolf war noch näher gekommen. Arri konnte sehen, wie sich die Muskeln unter seinem schorfigen Fell spannten, während sein Blick gleichermaßen erfüllt von schier unerträglichem Hunger und Heimtücke über ihre Gestalt tastete. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen, als seine Flanken zu zittern begannen und er abermals in den Hinterläufen einzubrechen drohte. Arri nahm an, dass ihn der Sprung, mit dem er sie zu Boden gerissen hatte, seine allerletzten Kräfte gekostet hatte. Vielleicht, dachte sie, kam sie ja doch noch mit dem Schrecken davon. Möglicherweise hatte das Tier einfach nicht mehr die Kraft für einen weiteren Angriff.

Aber tief in sich spürte sie, dass das nicht so war.

Unendlich vorsichtig, um das Ungeheuer nicht durch eine unbedachte Bewegung zu provozieren, richtete sie sich weiter auf, wich langsam einen Schritt zurück und hob den Stock. Der Wolf drohte knurrend, und schaumiger Geifer troff von seinen Lefzen. Arri sah jetzt, dass mehrere seiner Zähne abgebrochen und auch sein Maul wenig mehr als eine einzige, schwärende Wunde war.

Mit aller Macht versuchte sie, sich zur Ruhe zu zwingen. Ihre Gedanken rasten. Ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam, und alles in ihr schrie danach, einfach herumzufahren und davonzustürzen, so schnell sie nur konnte. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Das Tier war verletzt und musste halb wahnsinnig vor Schmerz und Hunger sein, und vermutlich hatte es vor ihr mindestens ebenso große Angst wie sie umgekehrt vor ihm. Dennoch rührte sie sich nicht von der Stelle; sie war noch nie einem Wolf so nahe gewesen, aber sie wusste, wenn sie davonliefe, wäre es um sie geschehen. Sobald sie dem Tier den Rücken zudrehte, würde es sie zweifellos angreifen, und Arri war sicher, dass es trotz allem immer noch genug Kraft hatte, sie einzuholen und niederzureißen. Immerhin hatte es sie schon mit seinem ersten Sprung zu Boden geschleudert, obwohl es sie praktisch nur gestreift hatte.

Entschlossen ergriff sie ihren Stock fester und wich einen halben, vorsichtigen Schritt zurück, noch immer ohne den Blick des Tieres auch nur für den winzigsten Moment loszulassen. Möglicherweise würde es ja nicht angreifen. Jetzt, wo sie aufrecht vor ihm stand und nicht mehr vor ihm davonlief, mochte ihre Größe und der fast armlange Knüppel in ihrer Hand es beeindrucken. Zumindest aber flößten sie ihm Respekt ein, denn das Tier kam zwar abermals näher, blieb aber dann sofort wieder stehen, als sie den Knüppel hob und ihn drohend schwang.

Als der Angriff dann kam, erfolgte er so plötzlich, dass sie trotz allem beinahe zu spät reagiert hätte. Der Wolf stieß ein schrilles Heulen aus, stieß sich mit den Hinterläufen ab, die mit einem Mal eine Kraft entwickelten, die Arri nie und nimmer mehr vermutet hätte, und sprang sie mit weit aufgerissenem Maul an. Arri ließ sich unwillkürlich zur Seite fallen und schlug mit dem Stock zu. Sie verfehlte den Wolf genau so knapp, wie die zuschnappenden Kiefer des Tieres ihr Ziel verfehlten. Arri stürzte, doch auch der Wolf kam nicht so fließend und schnell wieder auf die Beine, wie er es vermutlich zeit seines Lebens gewohnt gewesen war, sondern brach mit einem schrillen Jaulen in den Hinterläufen ein und blieb benommen und winselnd vor Schmerz liegen. Nicht lange, aber die Zeit reichte Arri trotzdem, wieder auf die Beine zu kommen und den Stock fester zu ergreifen.

Jetzt wäre der Moment gewesen, herumzufahren und davonzurennen, und das sogar mit einiger Aussicht auf Erfolg. Der Wolf versuchte vergeblich, in die Höhe zu kommen. Ein- oder zweimal gelang es ihm sogar, aber er brach immer wieder in den Hinterläufen ein, und sein Heulen und Jaulen klang jetzt kaum mehr drohend, sondern fast schon Mitleid erregend. Sie glaubte nicht, dass dieses Tier noch die Kraft hatte, sie zu verfolgen, geschweige denn einzuholen.