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Leas Gesicht verhärtete sich. Der Zorn war aus ihren Augen gewichen, aber er hatte einer Kälte Platz gemacht, die eindeutig schlimmer war. Bevor sie antwortete, löste sie sich von ihrem Platz am Fenster, trat mit drei raschen Schritten hinter Arri und legte ihr in einer ganz gewiss nicht zufälligen Geste beide Hände beschützend auf die Schultern. Arri war verwirrt und sogar ein bisschen erschrocken. Was sich draußen wie ein Streit angehört hatte, war tatsächlich einer; ja, sie war sogar sicher, dass sich die beiden einzig ihretwegen noch beherrschten, um nicht noch viel schlimmere Dinge zu sagen. Was ging hier nur vor?

»Ihr habt eine sehr seltsame Art, Eure Dankbarkeit zu zeigen, Hohepriester«, fuhr ihre Mutter fort. »Oder ist es bei Eurem Volk üblich, diejenigen zu bedrohen, die Euch helfen, wo sie nur können?«

»Es tut mir Leid, wenn du meine Worte so verstanden hast, Lea«, antwortete Nor, wenn auch in einem Ton, der zumindest in Arris Ohren nach dem genauen Gegenteil klang. »Ich sage es gern noch einmal, und ich sage es auch laut, vor den Ohren des ganzen Dorfes, wenn du es willst: Ich weiß, was wir dir zu verdanken haben. Aber nicht alle denken so wie ich. Und jetzt, wo die Zeit mehr als überfällig ist und du endlich in unsere Gebräuche einwilligen musst, ob du es nun einsiehst oder nicht, werde selbst ich dich und deine Tochter nicht mehr beschützen können.«

Als er die Worte deine Tochter aussprach, verkrampften sich Leas Hände für einen Moment so fest auf Arris Schultern, dass es schon fast wehtat. Nor blieb das nicht verborgen. Ein Ausdruck von schlecht vertuschter Verletztheit huschte über sein nacktes, faltiges Gesicht, und plötzlich trat er näher, streckte die Hand aus und fuhr Arri damit flüchtig über das bis auf den Rücken reichende, glatte helle Haar. Er brachte es sogar fertig, dabei zu lächeln, aber es kostete ihn sichtliche Anstrengung. Nicht nur Arri spürte, dass er ihr ungefähr mit dem gleichen Vergnügen über den Kopf gefahren war, mit dem er eine hässliche Spinne oder ein missgestaltet geborenes Schwein gestreichelt hätte. Lea reagierte entsprechend, indem sie einen hastigen Schritt zurücktrat und ihre Tochter beinahe grob aus der Reichweite des Hohepriesters zerrte.

»Meine Antwort ist nein«, sagte sie, machte eine winzige, aber bedeutsame Pause und fuhr dann mit leicht erhobener Stimme und unmissverständlicher Betonung fort: »Richte das nur denen aus, die nicht so denken wie du. Und was deine Sorge um meine Zukunft und vor allem die meiner Tochter angeht, so kann ich dich beruhigen. Ich bin keine junge Frau mehr, aber ich bin auch noch nicht zu alt, um nicht zusammen mit meiner Tochter an einen anderen Ort zu gehen. Vielleicht an einen, an dem man unsere Gaben mehr zu würdigen weiß.«

Nor lächelte unerschütterlich weiter. Möglicherweise waren seine Züge aber auch einfach eingefroren - bei dem, was er da hörte. Etwas in seinen Augen erlosch jedenfalls. Er brachte es irgendwie fertig, die Wut in seinem Blick niederzukämpfen, aber weniger gut als sein Gesicht und seine Augen hatte er seinen Körper unter Kontrolle. Nor war ein uralter Mann, aber er war nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit, was nicht nur an der Ausstrahlung von Macht und Autorität lag, sondern auch daran, dass er wesentlich größer als jeder andere Mann war und zudem ihre ungewöhnlich hoch gewachsene Mutter um einen halben Kopf überragte. Für einen Moment strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri erschrocken die Luft anhielt. Sie wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn der Hohepriester ihre Mutter gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis sie ihm gab, was er von ihr wollte. Was immer es sein mochte.

Der Augenblick verging jedoch so schnell, wie er gekommen war. Der brodelnde Zorn, der dem alten Mann etwas von der Wildheit und Kraft zurückgegeben hatte, die vor unendlich vielen Sommern vielleicht einmal tatsächlich in ihm gewesen waren, erlosch, und Nor sackte regelrecht in sich zusammen. Sein nacktes Gesicht, eine Landschaft aus Falten, Runzeln und zahllosen, tief eingegrabenen Narben, erschlaffte ebenso wie seine Schultern, und er stützte sich schwer auf den knorrigen Stock, den er bisher eher lässig in der linken Hand gehalten hatte, als führe er ihn nur zur Zierde und als Zeichen seiner Macht mit sich - und nicht, um sich darauf zu stützen. »Ich wünschte, du würdest Vernunft annehmen, Frau. Nach all der Zeit, die wir uns nun kennen, mache ich mir nun langsam Sorgen um dich. Ich bin ein alter Mann, und ich weiß nicht, wie lange ich noch meine schützende Hand über dich und deine Tochter halten kann. Die jüngeren Männer bedrängen mich. Männer, die nicht so geduldig sind wie ich und sich womöglich mit Gewalt nehmen werden, wonach ihnen der Sinn steht - und wozu sie die alten Gesetze der Götter nicht nur berechtigen, sondern geradezu auffordern.«

Arris Mutter lachte leise; ein glockenheller Laut, in dem mehr Verachtung und Herablassung lagen, als hätte sie Nor eine schallende Ohrfeige versetzt. Der Krieger neben Nor spannte sich und machte einen Schritt in seinen aus Lederriemen gewickelten Gamaschen vorwärts, verhielt jedoch mitten in der Bewegung, als Nor mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung abwinkte. Obwohl Arri nicht zu ihr hochsah, spürte sie, wie der Blick ihrer Mutter an dem Krieger vorbei über die dem Eingang gegenüberliegende Wand tastete, wo das Zauberschwert hing - das Einzige, was sie außer ihrer Tochter und ihren Erinnerungen aus ihrer Heimat mitgebracht hatte.

»Ich weiß Eure Sorge um mich zu schätzen, Nor«, sagte sie mühsam beherrscht, »aber ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Dennoch danke ich Euch für Eure Warnung. Ich werde in Zukunft noch vorsichtiger sein und mir noch sorgfältiger überlegen, mit wem ich rede und worüber.«

Diesmal sah der Hohepriester aus, als hätte sie ihn geohrfeigt. Und irgendwie - obwohl sie kaum etwas von dem verstand, was sie gerade gehört hatte - hatte Arri das Gefühl, dass sie es tatsächlich getan hatte. Nor starrte ihre Mutter für die Dauer von drei endlosen, schweren Atemzügen an, dann fuhr er auf der Stelle herum und verließ die Hütte ohne ein Wort des Abschieds und so schnell er konnte, dicht gefolgt von dem Krieger, der zu Arris Verblüffung ihr selbst und nicht ihrer Mutter einen letzten, merkwürdig abschätzenden Blick zuwarf.

Arri wartete, bis der Muschelvorhang hinter ihnen zugefallen war, und ein ganz kleiner, boshafter Teil von ihr hoffte, dass der alte Mann auf den schmalen Stufen das Gleichgewicht verlieren würde und kopfüber hinunterstürzte; aber sie wusste zugleich auch, dass das nicht geschehen würde. Alt und gebrechlich mochte Nor ja sein, aber alles andere als ungeschickt oder gar unvorsichtig. Das bewies allein die Tatsache, dass er sich trotz seines hohen Alters nicht gescheut hatte, den weiten und anstrengenden Weg von Goseg über die Hügel hierher zurückzulegen, einen Weg, der sich auch auf kürzester Strecke nicht an einem einzigen Tag zurücklegen ließ, sondern ihn zwei, vielleicht sogar drei Tage gekostet haben mochte. Als die schlurfenden, vom dumpfen Klock, Klock seines Stockes begleiteten Schritte auf der Stiege abbrachen, glitt Arri unter den Händen ihrer Mutter hindurch und trat ans Guckloch.

Sie war schneller gewesen als Nor, denn es vergingen noch ein paar Momente, bis er in ihrem Blickfeld auftauchte. Er bewegte sich langsam und dennoch auf eine Art, die ebenso große Zielsicherheit wie Kraft verriet. Sein unzweifelhaft hohes Alter und das, was Arri sah, passten nicht zusammen. Obwohl er spüren musste, dass sie hier oben am Guckloch stand und ihn beobachtete, hob er kein einziges Mal den Blick, während er mit hängenden Schultern und schwer auf seinen Stock gestützt den gewundenen Weg zum Dorf hinaufging, den Arri vorhin so leichtfüßig heruntergehüpft war; ein zu groß geratener Vogel in seinem Umhang aus Federn und gefärbten Tierfellen, der komisch gewirkt hätte, hätte er nicht zugleich auch wie ein Raubvogel ausgesehen. Arri blieb am Guckloch stehen, bis er zwischen den Bäumen am Dorfrand verschwunden war.