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Aber sie lief nicht davon. Sie ergriff ganz im Gegenteil nun mit beiden Händen ihren Knüppel, bewegte sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten auf den Wolf zu, immer auf einen plötzlichen Angriff gefasst und bereit, zurückzuspringen, und ging schließlich in einem weiten Bogen um ihn herum. Ohne es zu merken, hielt sie den Knüppel nun nicht mehr wie einen Stock, sondern wie ein Schwert, ganz, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, nahm mit leicht gespreizten Beinen neben dem Tier Aufstellung - und zertrümmerte ihm mit einem einzigen, wuchtigen Schlag den Schädel.

Zitternd trat sie zurück, ließ den Stock sinken und schloss für einen Moment die Augen, bis sich ihr hämmernder Herzschlag wenigstens so weit beruhigt hatte, dass sie wieder atmen konnte, ohne dabei wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu japsen. Als sie die Augen öffnete, lag der Wolf reglos ausgestreckt und auf die Seite gefallen vor ihr. Ein dünnes Rinnsal aus überraschend hellem Blut lief aus seinem Ohr, und seine Augen starrten blicklos ins Leere.

Plötzlich zitterten ihre Hände so stark, dass sie alle Mühe hatte, den Knüppel nicht fallen zu lassen. Ein Sturm von Gefühlen brach über sie herein und ließ sie wanken, wobei Furcht und Verwirrung die Oberhand hatten, zugleich aber auch noch etwas völlig anderes, Neues, und auf eine sonderbare Weise zugleich Erschreckendes und Erregendes. Warum hatte sie das getan? Arri starrte ihre Hände an, dann den abgebrochenen Ast, an dessen Ende ein einzelner Blutstropfen und ein paar drahtige, schwarz-graue Haare klebten, und schließlich den reglos daliegenden Wolf. Sie wollte Erleichterung verspüren, denn dieses Tier war aus keinem anderen Grund hier aufgetaucht, als sie zu töten, aber alles, was sie empfand, war eine tiefe, fast hoffnungslose Verwirrung und ein ganz leises, zwar absurdes, aber dennoch vorhandenes Gefühl von Schuld. Sie hatte sich nur verteidigt, und trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben.

Arri versuchte sich damit zu trösten, dass sie diese bemitleidenswerte Kreatur letzten Endes von ihren Leiden erlöst hatte. Auch das half nichts. Sie hätte dem Wolf spielend davonlaufen können, und schwach und verwundet, wie er war, hätte er vermutlich auch keine weitere Gefahr mehr dargestellt. Zumindest hätte sie ins Dorf laufen und die Jäger alarmieren können, damit sie sich um das Raubtier kümmerten.

Zutiefst verwirrt über ihre eigenen, einander widerstrebenden Gefühle, ließ Arri den Stock fallen, drehte sich um und ging mit langsamen, fast bedächtigen Schritten los. Sie war noch nicht weit gekommen, als es hinter ihr raschelte. Arri zuckte erschrockenen zusammen. Sie drehte sich um, und ein entsetztes Keuchen kam über ihre Lippen.

Der Wolf war nicht tot. Er war nicht einmal bewusstlos. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das, mit dem sich das schwer verletzte Tier in die Höhe gearbeitet hatte. Aus seinem Ohr lief jetzt mehr Blut, und auch der Speichel, der von seinen Lefzen troff, hatte sich hellrot gefärbt. Ein tiefes, unvorstellbar drohendes Knurren drang aus seiner Brust, während er sich vollends zu ihr umdrehte und auf eine groteske Art humpelnd loslief.

Grotesk vielleicht - aber dennoch erschreckend schnell.

Arri vergeudete fast die Hälfte der winzigen Zeitspanne, die ihr noch blieb, indem sie den Wolf aus fassungslos aufgerissenen Augen und vollkommen reglos dastehend anstarrte, bevor sie endlich herumfuhr und mit gewaltigen Sätzen davonlief. Hinter ihr kamen das Hecheln und Knurren des Wolfes und das Geräusch seiner weichen Pfoten auf dem Waldboden mit entsetzlicher Schnelligkeit näher. Arri versuchte schneller zu rennen, aber sie konnte es nicht. Der Wolf holte mit unbarmherzigem Ungestüm auf. Todesangst ergriff sie. Sie glaubte, seinen hechelnden, stinkenden Atem bereits im Nacken zu spüren, und dann konnte sie hören, wie er sich abstieß und mit einem gewaltigen Satz auf sie zuflog.

Verzweifelt warf sie sich zur Seite, aber diesmal verließ sie ihr Glück. Der Wolf musste ihre Bewegung vorausgeahnt haben; vielleicht war sein Sprung auch ungeschickt gezielt gewesen, und sie hatte sich ihm in den Weg geworfen, statt in die andere Richtung - gleich wie: Das Tier, das trotz allem noch immer fast so schwer wie sie selbst sein musste, prallte mit entsetzlicher Wucht gegen sie und riss sie von den Füßen. Ein scharfer Schmerz explodierte in ihrem Arm, als sich die Zähne des Wolfes in ihre Bluse gruben und den Stoff und die darunter liegende Haut mühelos zerfetzten. Arri schrie vor Schmerz und Angst, schlug ungeschickt auf dem Boden auf und besaß diesmal nicht mehr genug Geistesgegenwart, um sich abzurollen und dem Sturz auf diese Weise seine allerschlimmste Wucht zu nehmen, sodass sie ein zweites Mal und noch härter gegen einen Baumstamm prallte und um ein Haar das Bewusstsein verloren hätte.

Als sie die Augen aufschlug und sich hochrappelte, war sie sich sicher, dass sie nun sterben würde.

Auch der Wolf war gestürzt, genau wie das erste Mal, als er sie angesprungen hatte, aber sie hatte ihn entweder hoffnungslos unterschätzt, oder Todesangst und Schmerz verliehen dem Tier noch einmal seine alten, gewaltigen Kräfte. Arri stemmte sich wimmernd vor Schmerz und Angst in die Höhe, während der Wolf mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung aufsprang und herumwirbelte. Sein Fang war weit geöffnet, und in seinen blutunterlaufenen Augen loderte jetzt nichts anderes als die reine Mordlust. Das Tier wusste, dass es sterben würde, aber es würde sie mitnehmen. Arri riss mit einem verzweifelten Schrei die Arme vors Gesicht und warf sich mit einer noch verzweifelteren Bewegung zur Seite, doch sie spürte auch, dass sie viel zu langsam war. Der Wolf sprang mit einem mächtigen Satz auf sie zu...

... und neben Arri tauchte wie aus dem Nichts ein riesiger, verzerrter Schatten auf, der gegen den Wolf prallte und ihn davonschleuderte.

Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schlug Arri auf dem Waldboden auf, der plötzlich überhaupt nicht mehr federnd und nachgiebig schien, sondern ihr so hart wie Stein vorkam; sie rollte herum und keuchte noch einmal und noch lauter vor Schmerz, als sie dabei ihren verletzten Arm belastete. Sie spürte, wie sich hinter ihren Lidern eine gewaltige, allumfassende Dunkelheit zusammenballte. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Aber wenn sie jetzt das Bewusstsein verlor, das wusste sie, dann würde sie nicht wieder aufwachen. Mit verzweifelter Kraft kämpfte sie die Ohnmacht nieder, zwang sich, sich auf den Rücken zu wälzen und die Augen zu öffnen, und musste ein paarmal blinzeln, denn im ersten Moment sah sie nichts als verwaschene Schemen und ineinander laufende Schatten.

Dann klärte sich ihr Blick, und was sie sah, das ließ sie für einen Moment sogar ihre Schmerzen und ihre Todesangst vergessen.

Der Wolf war gute fünf oder sechs Schritte weit von ihr zu Boden gestürzt und musste sich dabei noch weiter verletzt haben, denn er stieß nun ein hohes, klägliches Fiepen aus und versuchte vergeblich, sich in die Höhe zu stemmen. Seine Hinterläufe brachen immer wieder ein, und auch der Blutstrom aus seinem Ohr und seinem Maul hatte deutlich zugenommen. Eine riesenhafte, ganz in zottiges, schwarzes Fell gehüllte Gestalt stand breitbeinig und leicht geduckt über dem gefällten Tier, ein Ungeheuer, zehnmal so groß wie der Wolf und hundertmal so gefährlich.

Das Trugbild hielt nur einen Augenblick. Schon auf den zweiten Blick erkannte Arri, dass es ein Mann war, kein Ungeheuer, doch das mochte an allem anderen, was sie über die Gestalt gedacht hatte, nichts ändern. Es war der riesigste Mann, den sie jemals zu sehen geglaubt hatte; selbst Nor musste neben ihm wie ein Zwerg aussehen, und er war so breitschultrig, dass sich auch Grahl und seine Brüder mühelos hinter ihm hätten verstecken können. Arri konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn er wandte ihr den Rücken zu, aber er hatte langes, bis weit über die Schultern fallendes, dichtes schwarzes Haar, und im allerersten Moment war es ihr unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, ob das schwarze Fell, in das er sich gehüllt hatte, tatsächlich nur ein Umhang war.