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Der Wolf gab es auf, ganz aufstehen zu wollen, und stemmte sich nur auf die Vorderläufe hoch. Sein von hellrotem Schaum erfülltes Maul versuchte, nach dem Mann zu schnappen, doch dieser wich dem Angriff mit einer fast spielerischen Bewegung aus und versetzte dem Tier im Gegenzug einen wuchtigen Tritt vor den Kopf, der es abermals zu Boden schleuderte. Dann griff er unter seinen Umhang, zog ein Schwert hervor und stieß es dem Wolf mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung tief in den Leib. Das Tier heulte noch einmal schrill und erschlaffte dann. Der Fremde zog die Waffe zurück, wischte die Klinge mit einer sorgsamen Bewegung am Fell des toten Wolfes ab, und versetzte dem Kadaver rasch hintereinander noch zwei, drei wuchtige Tritte; vermutlich weniger, um seinen Zorn an ihm auszulassen, als eher, um sich davon zu überzeugen, dass das Tier auch tatsächlich tot war. Dann ließ er die Waffe wieder unter seinem Umhang verschwinden und drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung zu Arri um.

Arri erstarrte. Sie glaubte zu spüren, wie ihr Herz für einen Moment aufhörte zu schlagen und dann mit doppelter Wucht wieder einsetzte, und sie sah den Fremden aus ungläubig aufgerissenen, starren Augen an. Ihre Gedanken schienen plötzlich nur noch träge abzulaufen, wie ein unvorsichtiger Wanderer, der in den Sumpf geraten war und mit jedem Schritt mehr Kraft aufbringen musste, um von der Stelle zu kommen. Sie war nicht einmal sicher, dass sie noch atmete.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber ein Gesicht wie dieses hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Fremde war ganz eindeutig ein Mann und kein Ungeheuer, wie sie im allerersten Moment gedacht hatte, und doch war sie sich nicht einmal dessen völlig sicher. Sein Gesicht, das von rabenschwarzem lockigem Haar eingerahmt war, war kräftig und markant und dennoch viel schmaler als das der Männer aus dem Dorf, was es ihr schier unmöglich machte, sein Alter zu schätzen - noch dazu, weil er keinen Vollbart trug, wie alle anderen Männer, die Arri kannte, Nor einmal ausgenommen. Er hatte hohe, deutlich hervorstehende Wangenknochen, was sein Gesicht ein wenig wie das ihrer Mutter aussehen ließ, und sehr helle, klare Augen, die von einem sonderbaren Blau waren und Arri mit einer Mischung aus Neugier, Erleichterung und sanftem Tadel anblickten.

Eine geraume Weile stand er einfach nur da und sah sie auf diese seltsame Art an, unter der sie sich zunehmend unwohler fühlte, obwohl sie tief in sich zu spüren glaubte, dass von diesem Fremden keine Bedrohung ausging - immerhin hatte er ihr das Leben gerettet -, dann streckte er die Hand in ihre Richtung aus und machte einen einzelnen Schritt, blieb aber sofort wieder stehen, als Arri erschrocken zusammenfuhr und hastig ein kleines Stück rücklings vor ihm davonkroch. Für einen ganz kurzen Moment lächelte er; jedenfalls nahm sie an, dass es ein Lächeln war, auch wenn sie sich nicht ganz sicher sein konnte. Schließlich hatte sie bis auf Nor noch niemals das fast bartlose Gesicht eines erwachsenen Mannes gesehen, und dieses Blecken der Lippen, das zwei Reihen erstaunlich großer, makellos weißer Zähne entblößte, mochte ebenso gut eine Drohgebärde sein. Arri kroch vorsichtshalber noch ein weiteres Stück vor ihm davon und hob den linken, unverletzten Arm vor das Gesicht.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Fremde. Seine Stimme war tief und volltönend und erfüllte Arri mit einem vollkommen absurden Gefühl von Zutrauen und Sicherheit, doch sie hatte Mühe, die Worte überhaupt zu verstehen. Er sprach langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort erst einen winzigen Augenblick nachdenken, bevor er es wählte, und mit einem rollenden Akzent, den Arri noch nie zuvor gehört hatte. Und ganz plötzlich begriff sie, wer da vor ihr stand.

Es musste einer der Fremden sein, die Grahls Bruder erschlagen und Kron verwundet hatten!

Das Gefühl vorsichtiger Erleichterung, das sie bisher verspürt hatte, verschwand schlagartig. Sie hatte die Geschichten, die man sich im Dorf erzählte, nicht wirklich geglaubt. Ebenso wie ihre Mutter war sie der Meinung gewesen, dass Grahl und die anderen logen - zweifellos in Sarns Auftrag - und dass es die Spuren, die sie entdeckt zu haben behaupteten, gar nicht gab. Sie hatte sich getäuscht. Das musste einer der Fremden sein. Mit einem Mal erkannte sie es so deutlich, als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen und ihre Vermutung laut bestätigt: dunkelhaarige Riesen in schwarzen Fellen, die mit Schwertern bewaffnet waren und erst zuschlugen und dann fragten, was sie getroffen hatten.

Er hatte sie vor dem Wolf gerettet, aber zweifellos nur, um sie jetzt selbst zu töten. Arri begann leise zu wimmern. Sie wollte weiter vor dem Fremden davonkriechen, aber ihre Kraft reichte nicht mehr.

»Du bist tapfer«, fuhr der Fremde fort. Er ließ den Arm sinken und versuchte auch nicht, noch einmal näher zu kommen. »Aber wenn du das nächste Mal einen Wolf erschlägst, überzeuge dich davon, dass er auch wirklich tot ist.«

Und damit nickte er ihr noch einmal zu, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand so schnell und lautlos wieder im Wald, wie er aufgetaucht war.

7

Noch lange, nachdem der geheimnisvolle Fremde verschwunden war, stand Arri wie erstarrt da. Ihr Arm schmerzte. Blut tränkte den zerrissenen Stoff ihrer Bluse und lief in einem dünnen Rinnsal an ihrem Handgelenk hinunter. Ihr Herz klopfte, aber jetzt nicht mehr so schnell, dass es ihr den Atem abschnürte, sondern langsam und hart, als müsse es vor jedem Schlag mühsam Kraft sammeln, und ihre Gedanken drehten sich jetzt nicht mehr im Kreis, sondern schienen einfach erstarrt zu sein. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, der plötzlich wahr geworden war und nicht aufhörte, wenn man erwachte, sondern einfach weiterging und ganz im Gegenteil nur noch schlimmer wurde.

Irgendwann fand sie wenigstens weit genug in die Wirklichkeit zurück, um aufzustehen und mit zitternden Knien zu dem erschlagenen Wolf hinüberzugehen. Obwohl es diesmal keinen Zweifel mehr daran gab, dass er endgültig und unwiderruflich tot war, griff die Angst abermals mit eisigen Fingern nach ihr. Selbst im Tod wirkte das Tier furchteinflößend; abgemagert und verletzt oder nicht, es war eine gewaltige Bestie mit beeindruckenden Klauen und Fängen, deren bloßer Anblick ihr einen neuerlichen Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Sie hatte Glück gehabt, dass der Wolf sie auch bei seinem zweiten Angriff verfehlt hatte - hätte er sie richtig getroffen, hätte er ihr vermutlich den Arm abgerissen. Und wäre dieser unheimliche Fremde nicht gekommen...

Als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, meldete sich ihr Arm mit pochendem Schmerz zurück. Arri riss den Blick mit erheblicher Mühe von dem toten Wolf los und wich vorsichtshalber drei, vier Schritte vor ihm zurück - man konnte schließlich nie wissen -, bevor sie mit spitzen Fingern den zerrissenen Ärmel ihrer Bluse hochhob und ihren Arm begutachtete. Er sah schlimm aus; nicht so schlimm, wie er sich anfühlte, aber schlimm genug. Sie hatte vier tiefe Kratzer davongetragen, von denen einer noch immer heftig blutete. Als sie behutsam danach tastete, tat es so weh, dass sie scharf die Luft einsog und nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, aber er erinnerte sie vor allem an einen anderen, viel schlimmeren und zugleich ähnlichen Anblick, den sie vor nicht allzu langer Zeit gehabt hatte. Sie musste die Wunde reinigen, bevor sie sich entzündete.

Obwohl ihr alles andere als wohl dabei war, machte sie kehrt und ging zur Lichtung zurück, um die Wunde im eiskalten Wasser der Quelle auszuwaschen, was wirklich wehtat. Die Eiseskälte betäubte den Schmerz nicht, wie sie erwartet hatte, sondern fachte ihn im Gegenteil eher noch an, sodass ihr die Tränen über das Gesicht rannen, als sie endlich fertig war. Aber sie hatte die Wunde gesäubert, und wenn sie jetzt noch einen Verband anlegte, würde sie sich zumindest nicht entzünden.