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Den Korb, den sie auf der Flucht vor dem Wolf fallen gelassen hatte, hatte sie auf dem Rückweg wieder aufgehoben, aber er war natürlich leer; die Pilze waren irgendwo im Wald verstreut, und die Blätter und Heilkräuter hatte sie ja sowieso erst auf dem Rückweg mitnehmen wollen. Einen Moment lang überlegte sie ernsthaft, irgendeinen Verband aus Blättern aufzulegen, entschied sich aber dann dagegen. Ihr Arm schmerzte noch immer höllisch, aber wenn sie eines von ihrer Mutter gelernt hatte, dann, dass die Natur zwar über gewaltige Heilkräfte verfügte, aber auch unermesslichen Schaden anrichten konnte, wenn man diese Kräfte falsch einsetzte. Außerdem musste sie sich beeilen, um nach Hause zu kommen. Sie hatte eine Menge zu erzählen.

Unwillkürlich schlug sie einen respektvollen Bogen um den Kadaver des Wolfes, als sie sich endgültig auf den Rückweg machte. Das Wissen, dass er ihr nicht mehr gefährlich werden konnte, änderte nichts daran, dass er ihr immer noch Angst machte. Darüber hinaus nistete sich ein hässlicher, aber hartnäckiger Gedanke in ihr ein: nämlich der, dass da, wo ein Wolf war, durchaus auch noch ein zweiter sein konnte. Dass das Tier von seiner Meute ausgestoßen worden war, bedeutete nicht unbedingt, dass es sich besonders weit von ihr entfernt hatte.

Nicht nur weil ihr Arm mittlerweile erbärmlich wehtat, wurde Arri immer schneller, je mehr sie sich ihrem Zuhause näherte. Vielleicht war es am Anfang einfach zu viel gewesen, und vielleicht war der Schrecken einfach noch größer gewesen, als ihr bewusst gewesen war - immerhin hatte sie, wenn sie es recht bedachte, zum allerersten Mal wirklich Todesangst gehabt, auch wenn sie dies niemals laut zugeben würde. Doch es kam ihr so vor, als hätte sie alles, was geschehen war, bisher gar nicht begriffen. Mit jedem Schritt, den sie dem Dorf näher kam, veränderten sich die Bilder in ihrer Erinnerung, wurden wirklicher und gleichzeitig auf eine andere Art viel schlimmer. Mit einem Mal schien der Wald von fremden, bedrohlichen Geräuschen erfüllt zu sein, dem Tappen von schweren Pfoten, dem Rascheln von rauem Fell, das an Baumstämmen entlangstrich, einem gierigen Hecheln und Knurren.

Obwohl ihr die Erfahrung zu sagen versuchte, dass es nichts anderes als Einbildung war, nichts anderes sein konnte - denn wären die Wölfe noch in der Nähe, dann wäre sie längst tot -, war sie zugleich davon überzeugt, die Geräusche des näher kommenden Rudels zu hören, die Meute zu spüren, die sie einkreiste und auf einen günstigen Moment zum Angriff wartete. Ihr Instinkt versuchte immer verzweifelter, ihr klarzumachen, dass nichts davon wirklich war, aber es nutzte nichts - als sie noch hundert Schritte vom Waldrand entfernt war, ließ sie den Korb abermals fallen und verfiel in einen schnellen Laufschritt. Ihr Arm quittierte die Anstrengung mit noch schlimmeren, pochenden Schmerzen, und die Wunde begann wieder heftiger zu bluten, doch das nahm sie nicht einmal wahr. Wie von Sarns grausamen Göttern gehetzt, fegte sie aus dem Wald, überwand das kurze Stück bis zur Hütte ihrer Mutter mit wenigen gewaltigen Sätzen und stürmte die Stiege hinauf, ohne dass ihre Zehen die groben Stufen auch nur wirklich zu berühren schienen. Fast ohne langsamer zu werden, rannte sie durch die Türöffnung, verhedderte sich prompt in dem muschelbesetzten Vorhang und verlor das Gleichgewicht. Irgendwie gelang es ihr, ihren Sturz mit den Händen abzufangen, was einen noch schlimmeren, jetzt fast grausamen Schmerz durch ihren Arm schießen ließ, aber sie ignorierte auch ihn, richtete sich hastig auf und sprudelte mit schriller Stimme hervor: »Mutter, ich...«

Sie hatte vergessen, dass ihre Mutter sie weggeschickt hatte. Sie hatte vergessen, warum ihre Mutter sie weggeschickt hatte.

Es war sehr dunkel in der Hütte. Ihre Mutter hatte die Biberfelle vor die beiden Gucklöcher gehängt, sodass nur wenig Licht durch die Ritzen zwischen dem Fell und der lehmverputzten Wand drang oder sich zwischen den muschelbesetzten Strängen des Vorhangs hindurchschlich. Im allerersten Moment sah sie ihre Mutter nicht, sondern spürte lediglich ihre Anwesenheit. Sie lag auf der Grasmatratze, auf der sie Kron mit einem wuchtigen Schlag ihres Zauberschwertes den Arm abgetrennt hatte - Arris Matratze! -, und ihre viel hellere, fast weiße Haut bildete in dem schattendurchwobenen Halbdunkel des Hauses einen deutlichen Kontrast zu der sonnengebräunten, fast kupferfarbenen Haut der muskulösen Gestalt, die neben ihr lag.

Arri konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, denn es war zwischen den Brüsten ihrer Mutter verborgen, während seine rechte Hand zu ihrem Schoß geglitten war und sich zwischen ihren leicht gespreizten Beinen zu schaffen machte. Der muskulöse Rücken des Mannes glänzte vor Schweiß, und ein sonderbarer, nicht ganz unvertrauter Geruch, der zugleich unangenehm wie auf seltsame Weise erregend war, lag in der Luft; der Geruch nach Schweiß und den verbotenen, berauschenden Kräutern, mit denen ihre Mutter manchmal den Wein versetzte, aber auch noch etwas, das sie manchmal in der Luft gewahrte, wenn ihre Mutter sie fortschickte und sie Besuch von einem Mann aus dem Dorf bekam.

Obwohl sie so lautstark hereingepoltert war, vergingen noch einmal zwei oder drei Herzschläge, bevor ihre Mutter überhaupt reagierte. Verwirrt und überrascht hob sie den Kopf und sah in Arris Richtung, und ein Ausdruck von Unmut erschien auf ihrem Gesicht; ein Unmut, der nach weiteren zwei oder drei Atemzügen in jähes Erschrecken und dann Betroffenheit umschlug; und dann in etwas, das fast an Entsetzen grenzte. Hastig hob sie den Kopf und versuchte sich ganz aufzurichten, kam aber unter dem Gewicht des Mannes, der halb auf ihr lag, nicht wirklich in die Höhe. Mit einer raschen Bewegung schlug sie seine Hand beiseite, die sich noch immer zwischen ihren Schenkeln zu schaffen machte, und versuchte zugleich, ihn ganz von sich herunterzuschieben.

Der Mann gab ein unwilliges Knurren von sich, drückte sie mit dem anderen Arm grob auf das Lager zurück, und seine Hand wanderte schon wieder an ihrem Leib hinab und suchte das schwarze Dreieck über ihrem Schoß. Lea schlug mit solcher Wucht nach seinem Handgelenk, dass er mit einem überraschten Laut den Arm zurückzog und sich halb aufrichtete. »Was...«, knurrte er.

Arris Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Der Mann sah sie immer noch nicht an, sondern starrte eindeutig wütend auf ihre Mutter hinab. Sie konnte sein Profil nun selbst im schwachen Licht der Hütte so deutlich erkennen, dass sie sich fragte, wie sie es auch nur für den Bruchteil eines Atemzuges nicht hatte tun können. Es war Rahn.

Für einen Moment war Arri nicht in der Lage, überhaupt zu denken. Hinter ihrer Stirn herrschte nur Leere - und das Gefühl, in einen schwarzen, unendlich tiefen Abgrund zu stürzen. Wieso Rahn? Was wollte er hier? Was tat er ihrer Mutter an?

Dann begriff sie - nein, gestand sich ein -, was sie sich im allerersten Moment nicht zu begreifen gestattet hatte, und dieser Gedanke war vielleicht noch schlimmer.

Arri prallte zurück, bis sie gegen die Wand neben dem Fenster stieß. Ihr Herz schlug endlich weiter, so hart und schnell, dass sie es bis in die Fingerspitzen spüren konnte. Ihre ganze Umgebung schien sich um sie zu drehen. Sie starrte ihre Mutter und den Fischer an, die nur mit ihrem eigenen Schweiß bekleidet und jetzt in einer fast komisch anmutenden Art ineinander verschlungen dalagen, und sie weigerte sich noch immer zu begreifen, was sie sah; was es bedeutete. Rahn. Wieso ausgerechnet Rahn?

»Arri«, sagte ihre Mutter atemlos. Irgendwie gelang es ihr, sich wenigstens weit genug unter Rahn hervorzuarbeiten und sich auf die Ellbogen aufrichten, um sich ganz zu ihrer Tochter umdrehen zu können. »Was tust du hier? Wieso bist du nicht...«

Arri hörte nicht einmal hin - und wie konnte sie? Sie starrte das unglaubliche Bild an, das sich ihr bot, und hinter ihrer Stirn überschlugen sich unablässig die Gedanken. Ein kleiner Teil von ihr, dem jeglicher Augenschein gleich war, vielleicht auch das Kind, das sie schon lange nicht mehr war, ohne es bis zu diesem Moment gewusst zu haben, versuchte ihr einzureden, dass es nicht so war, wie es aussah, dass Rahn ihrer Mutter Gewalt angetan hatte und sie im allerletzten Moment gekommen war, um das Schlimmste zu verhindern. Aber sie wusste zugleich auch, dass das nicht stimmte. Ein einziger Blick in das Gesicht ihrer Mutter reichte aus, um ihr auch diese verzweifelte Ausrede zu nehmen, an die sie sich gegen jede Vernunft klammerte.