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Etwas raschelte im Unterholz hinter ihr. Arri fuhr erschrocken herum und suchte mit misstrauischen Blicken das Muster aus schwarzen, grünen und dunkelbraunen Schatten ab, das sie umgab. Das Rascheln wiederholte sich nicht, und sie sah auch nichts; vermutlich ein kleines Tier, das ihretwegen geflohen war. Auch wenn sie weit gelaufen war, befand sie sich doch noch in der Nähe des Dorfes, und die wenigen wirklich gefährlichen Raubtiere, die es gab, mieden erfahrungsgemäß die Nähe von Menschen.

Aber sie hatte den Wolf nicht vergessen, und auch den Fremden nicht.

Doch wie konnte sie zurück? Arri war noch immer bis ins Innerste aufgewühlt. Sie spürte Scham: Scham über das, was sie gesehen hatte, wie auch über ihr eigenes kindisches Verhalten. So konnte sie ihrer Mutter unmöglich unter die Augen treten.

Sie konnte aber auch nicht hier bleiben. Die Vorstellung, ihre Mutter könne sie suchen und sie hier mitten im Wald finden, wo sie sich wie ein kleines Kind in den Schatten verkrochen hatte, war ihr unerträglich.

Was sie wieder zu der Frage brachte, was sie nun tun sollte. Tief in sich bedauerte es Arri längst, so Hals über Kopf aus der Hütte geflohen zu sein. Vielleicht nicht einmal aus der Hütte - diese allererste, spontane Reaktion konnte sie sich selbst verzeihen, und sie wusste, dass ihre Mutter es ganz genauso gehalten hätte - aber sie hätte es damit gut sein lassen und spätestens dann stehen bleiben sollen, als ihre Mutter sie zurückgerufen hatte. Indem sie einfach weitergelaufen und wie ein störrisches Kind blindlings in den Wald geflüchtet war, hatte sie womöglich nicht nur den Zorn ihrer Mutter heraufbeschworen, sondern sich selbst jeder Möglichkeit beraubt, ihr wieder unter die Augen zu treten, ohne das Gesicht zu verlieren.

Arri fragte sich, ob sie das überhaupt jemals wieder konnte. Rahn. Warum ausgerechnet Rahn? Warum von allen Menschen im Dorf ausgerechnet der Mann, der sie am meisten in Rage zu bringen vermochte?

Sie drehte sich unwillkürlich in die Richtung, in die sie gehen musste, um nach Hause zu gelangen, und stolperte blindlings los. Dürres Gezweig peitschte ihr ins Gesicht, als sie sich rücksichtslos ihren Weg bahnte, aber sie merkte es nicht einmal; in ihr waren nur dumpfe, pochende Verzweiflung und die Sorge, dass Rahn noch da sein könnte, wenn sie zu Hause ankam, oder dass ihre Mutter so wütend war, dass sie sie gleich wieder fortschickte.

Als der Waldrand in Sicht kam, wurde sie langsamer, um zu lauschen und sicherzugehen, dass sie ihrer Mutter nicht direkt in die Arme lief. Auch wenn ihr ihre überreizten Sinne überall Bewegungen vorzugaukeln versuchten, musste sie sich doch nach einer Weile eingestehen, dass sie hier ganz allein war. Auf weichen Knien setzte sie ihren Weg fort und erreichte schweißgebadet und mit letzter Kraft ihre Hütte. Ungeschickt und immer noch im Zweifel, ob sie das Richtige tat, wankte sie die Stiege hinauf, und wie schon einmal war es auch jetzt wohl nur dem Geländer zu verdanken, dass sie nicht ausglitt und hinabstürzte. Im wahrhaftig allerletzten Augenblick versuchte sie sich ein paar Worte zurechtzulegen, mit denen sie ihre Mutter ansprechen konnte.

Sie fand keine, und sie brauchte sie auch nicht, denn die Hütte war leer.

Anfangs war sie fast erleichtert, dann machte sich ein Gefühl tiefer Enttäuschung in ihr breit. Fast schon verzweifelt ließ sie den Blick durch den kleinen, nahezu vollkommen leeren Raum schweifen, ging schließlich sogar zur anderen Seite und warf einen Blick in den winzigen Vorratsraum, als hoffe etwas in ihr wider besseres Wissen, ihre Mutter dort anzutreffen. Natürlich war sie nicht da.

Was sollte sie tun? Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie sich später oben am Steinkreis treffen wollten. Arri war längst nicht mehr in der Verfassung, die Zeit abschätzen zu können, die seit ihrer unheimlichen Begegnung im Wald verstrichen war. Vielleicht war es schon ewig lange her, vielleicht war der angedachte Zeitpunkt längst vorüber - wäre die Lage nur ein bisschen anders gewesen, so hätte sie sich jetzt auf den Weg zu dem Heiligtum gemacht, auch wenn sie selbst dort nicht mehr das Geringste hinzog, ganz im Gegenteil. Aber zweifellos würde ihre Mutter früher oder später dort auftauchen, wenn sie sie nur lange genug ergebnislos gesucht hatte; falls sie sich die Mühe überhaupt machte.

Plötzlich wurde Arri klar, in welch unangenehme Lage sie sich gebracht hatte. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ihre Mutter wirklich nach ihr suchte. Immerhin wusste sie ja nicht, wie es tatsächlich um sie stand. Für ihre Mutter musste es so aussehen, als wäre sie einfach in einem ungünstigen Moment hereingeplatzt und kopflos davongerannt. Von allem, was ihr widerfahren war, konnte sie nichts wissen. Vielleicht erwies sich der Umstand, dass sie einen so freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten und ihre Mutter nicht annähernd so streng zu ihr war wie alle anderen Eltern des Dorfes zu ihren Kindern, nun als Fluch, denn es war gut möglich, dass Lea sich damit tröstete, dass ihre Tochter früher oder später schon zur Vernunft kommen und ganz von allein zurückkehren würde, während sie selbst mit ihrem normalen Tagewerk fortfuhr. Was unter Umständen bedeutete, dass sie erst lange nach dem höchsten Sonnenstand zurückkäme, möglicherweise auch erst am Abend.

Arri spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich trotz allem auf den Weg zum Steinkreis zu machen. Dabei streifte ihr Blick zufällig die rückwärtige Wand des Raumes, und sie erstarrte förmlich und riss die Augen auf.

Die Wand war leer. Das Schwert ihrer Mutter war nicht mehr da, wo es hingehörte.

Im allerersten Moment war sie so überrascht, dass sie sogar den pochenden Schmerz in ihrem Arm vergaß. Vorhin, als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte das Schwert noch an seinem angestammten Platz gehangen, da war sie vollkommen sicher. Jetzt war es fort, und das konnte nur bedeuten, dass ihre Mutter es mitgenommen hatte. Aber warum? Wenn sie tatsächlich nur fort war, um nach ihr zu suchen, warum sollte sie dann eine Waffe mitnehmen?

Der Gedanke ließ eine ganze Reihe anderer durchweg unangenehmer Vorstellungen durch Arris Kopf purzeln, von denen einige geradezu ungeheuerlich waren - was nichts daran änderte, dass sie sie mit neuem, abgrundtiefem Schrecken erfüllten. Hatte ihre Mutter das Schwert mitgenommen, weil sie um die Gefahr wusste, die draußen im Wald lauerte? Oder - unsinnig, aber für einen Moment erwog Arri diesen Gedanken ganz ernsthaft - hatte sie sie mit dem, was sie getan hatte, so erzürnt, dass sie das Schwert tatsächlich mitgenommen hatte, um sie zu bestrafen?

»Arri?« Etwas polterte. Das Klappern des Muschelvorhangs drang gedämpft durch den anderen, viel dichteren Vorhang aus Panik, der sich über Arris Gedanken gelegt hatte, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter erneut, und diesmal lauter, erschrockener und nur noch einen Deut davon entfernt zu schreien. »Arri? Ihr Götter! Was ist mit dir?«

Hastige Schritte ertönten. Arri öffnete die Augen und sah ihre Mutter rasch näher kommen und sich mit erschrockenem Gesicht über sie beugen, während sie neben ihrem Lager auf die Knie sank. Etwas polterte, als sie das Schwert, das sie offenbar tatsächlich in der Hand gehalten hatte, einfach fallen ließ.

»Arri! Was hast du?« Auch in den Augen ihrer Mutter loderte Panik auf, als sie die Hände nach ihr ausstreckte und dann im letzten Moment zurückprallte, da sie Arris rot besudelte Finger sah. Sie sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Aber was...?«, murmelte sie, brach ab, und ein vollkommen neuer, erschrocken-verwirrter Ausdruck breitete sich auf ihren Zügen aus.