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Hinter ihr polterten schwere Schritte auf der Stiege, und der Vorhang klimperte wieder. Arri wollte sich auf die Ellbogen hochstemmen, um an ihrer Mutter vorbeizusehen, doch Lea sagte nur scharf und ohne den Blick von ihrer Tochter zu wenden: »Verschwinde!« Die Schritte brachen ab, und einen Augenblick später entfernten sie sich. Obwohl Arri nicht einmal einen Schatten gesehen hatte, wusste sie, dass es Rahn gewesen war.

»Ich... ich bin verletzt«, murmelte sie.

»Ja, das sehe ich«, sagte ihre Mutter knapp, nahm ihre blutverschmierte Hand und zog sie an sich heran, um die vier tiefen Kratzer zu begutachten, die der Wolf in Arris Arm gerissen hatte. »Woher hast du das?«

»Ich... der Wald«, stotterte Arri. »Ich bin gelaufen... Aber vorher hatte ich die Pilze gesammelt, ganz wie du es mir aufgetragen hattest.«

»Ich verstehe. Du warst mal wieder etwas ungestüm.« Ihre Mutter seufzte und besah sich die Wunde noch einmal genauer. »Das sieht schlimmer aus, als es ist. Ich werde dir gleich einen Wundverband anlegen. Allerdings frage ich mich, warum du das nicht selbst getan hast.«

»Das habe ich ja«, sagte Arri. »Aber der Verband ist wieder abgegangen.« Sie musste ihrer Mutter von dem Wolf erzählen, und vor allem von dem unheimlichen Fremden. »Da war ein Mann«, begann sie, »und...«

»Rahn«, unterbrach sie ihre Mutter. »Ja, ich weiß.« Sie lächelte, nun aber eindeutig verlegen. »Das war dumm von mir - dir vorher nichts zu sagen, meine ich. Ich hätte mir denken sollen, dass du es herausfindest; immerhin bist du meine Tochter.«

»Das meine ich nicht«, sagte Arri, aber ihre Mutter hörte gar nicht hin. Sie löste sich von ihrem Platz am Eingang, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben Arri auf die Matratze sinken und legte ihr den Arm um die Schulter. Arri konnte sich gerade noch beherrschen, ihren Arm nicht abzuschütteln. So vertraut und innig ihr Verhältnis zueinander auch war, berührte ihre Mutter sie doch so gut wie nie; schon lange nicht mehr, seit sie ein wirklich kleines Kind gewesen war. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Arri hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass ihre Mutter es niemandem erlaubte, sie zu berühren oder ihr auch nur nahe zu kommen. Lea wurde unruhig, sobald sich ihr jemand auf weniger als Armeslänge näherte, und wenn diese Entfernung deutlich unterschritten wurde, reagierte sie regelrecht panisch; wie ein Raubtier, dem man zu nahe gekommen war.

Vielleicht hatte sie deshalb so übertrieben reagiert, als sie ihre Mutter in Rahns Armen gesehen hatte.

»Es war mein Fehler«, begann Lea.

»Aber dieser Mann...«

»Ich rede nicht von Rahn«, unterbrach sie Lea wieder. »Ich weiß, dass du ihn verabscheust, und ich habe ihn auch nicht gerade ins Herz geschlossen.« Sie hob die Schultern und seufzte kurz. »Aber er ist ein Mann, und die Auswahl ist nicht besonders groß.«

»Die Auswahl«, wiederholte Arri.

»Weißt du, Arianrhod«, sagte ihre Mutter, und ihr Lächeln verkrampfte sich noch mehr. Sie nahm nun von sich aus den Arm von Arris Schulter und rang linkisch mit den Händen. »Es gibt da... gewisse Dinge, die... Frauen und Männer miteinander tun... erwachsene Frauen und Männer.«

»Ja«, sagte Arri. »Ich weiß.«

Lea blinzelte.

»Das Dorf ist nicht sehr groß«, fuhr Arri fort. »Und die meisten Wände haben Ritzen, durch die man sehen kann.«

»Du... du meinst...?«, begann ihre Mutter.

»Ich meine, ich glaube, ich weiß, was du mir sagen willst«, antwortete Arri und hoffte insgeheim, ihre Mutter werde sie nicht auffordern, diesen Satz noch einmal zu wiederholen. »Ich bin kein Kind mehr, weißt du?«

»Oh«, sagte Lea. Sie wirkte betroffen und erleichtert zugleich. »Du meinst...«

»Ja«, seufzt Arri. »Ich meine.« Sie fragte sich, wer hier eigentlich die Erwachsene war.

»Ich hätte es wissen müssen«, fuhr ihre Mutter fort. Sie schüttelte den Kopf. »Die Menschen in diesem Land gehen mit solchen Dingen... etwas anders um, als ich es gewohnt bin. Ich dachte, du...«

Wärst taub und blind?, führte Arri den Satz in Gedanken zu Ende. Vorsichtshalber sprach sie es nicht laut aus.

»Aber du weißt nicht, was jetzt mit dir geschieht«, fuhr Lea fort. Sie beantwortete ihre eigene Frage mit einem Nicken. »Das ist das Problem.« Irgendwie wirkte sie erleichtert. »Du bist jetzt kein Kind mehr.«

Das war Arri schon lange nicht mehr. Sie schwieg. Was hätte sie auch schon sagen sollen?

»Es tut mir wirklich Leid«, meinte Lea und fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Vorhin, als du mich mit Rahn gesehen hast... ich weiß, dass es ein Schock gewesen sein muss. Für mich wäre es so gewesen, glaube ich. Ich meine: Es ist das Natürlichste von der Welt. Jedermann tut es, dann und wann. Es... es ist eigentlich etwas sehr Schönes, zumindest, wenn man sich sehr gern hat... aber auch wenn nicht... also... es gehört einfach zum Leben mit dazu...«

Sie begann zu stottern, verhaspelte sich endgültig und setzte schließlich nach einem hörbaren Einatmen neu an. »Vielleicht hätte ich dir das alles schon viel früher erklären sollen. Ich meine: Jetzt gibt es da nicht mehr allzu viel zu erklären, oder?«

»Nein«, antwortete Arri wahrheitsgemäß, obwohl sie sich dessen nicht ganz sicher war.

»Aber du möchtest doch kein Kind bekommen, oder?«, stieß ihre Mutter hervor. Arri starrte sie an. »Ja, das dachte ich mir«, fuhr Lea fort. »Zu wissen, wie man etwas tut, heißt nicht zwangsläufig zu wissen, was es bedeutet, nicht wahr?«

Arri schwieg weiter.

»Tja«, seufzte ihre Mutter, »dann wird das wohl doch ein längeres Gespräch.«

8

Arri hatte die Hütte den ganzen Tag über nicht mehr verlassen, nachdem ihre Mutter sie versorgt und ihr die dickere Winterbluse als Ersatz für die zerrissene Sommerbluse herausgesucht hatte. Noch lange - fast bis zum Einbruch der Dunkelheit - hatten sie in zwar unvertrauter, aber sehr wohltuender Nähe nebeneinander gesessen und geredet; nicht nur über das, was Nor von ihnen gefordert hatte, sondern auch über alles mögliche andere: über belanglose Dinge des Alltags genauso wie über weitere aufregende Geschichten aus der Welt, in der Arri zwar geboren war, die sie aber niemals kennen gelernt hatte, oder auch den alltäglichen Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, etwas, von dem ihre Mutter stets behauptet hatte, dass es sie nicht kümmere und dass es auch unter ihrer Würde sei, sich wie ein gewöhnliches Weib aus dem Ort das Maul über alles und jeden zu zerreißen; worüber sie aber trotzdem mit großer Begeisterung sprach.

Worüber sie nicht geredet hatten, das waren auf der einen Seite Rahn und sein Verhältnis zu ihrer Mutter und auf der anderen Seite Arris Begegnung mit dem Wolf und dem unheimlichen Fremden. Was den Wolf anging, so war Arri bald zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr ohnehin nicht glauben würde. Die Schrammen, der einzige Beweis für ihre Begegnung mit dem Untier, waren weit weniger tief, als sie erwartet hatte; und das wohl hauptsächlich deshalb, weil der Wolf sie gar nicht richtig erwischt hatte, sondern abgerutscht war - wofür Arri ihm im Stillen dankbar war. Nein, nach einem Kampf auf Leben und Tod mit einem Raubtier sah die ungewöhnliche Wunde nicht gerade aus, und obwohl ihre Mutter es mit keiner Silbe erwähnt hatte, war Arri doch überzeugt, dass sie ihr sowieso nicht glauben, sondern allenfalls annehmen würde, ihre Tochter hätte sich diese wilde Geschichte ausgedacht, um einer Bestrafung zu entgehen.

Und was den Fremden anging... in gewissem Sinne galt dasselbe auch für ihn. Viel schlimmer aber war, dass Arri irgendwie den Zeitpunkt verpasst hatte, von ihm zu reden, vielleicht weil sie zuvor auch schon die Begegnung mit Sarn im Steinkreis verschwiegen hatte, und, wenn sie ehrlich war, allein in diesem Sommer bereits zig andere Begebenheiten, von denen sie wusste, dass ihre Mutter sie alles andere als ruhig und gelassen hinnehmen würde. Wäre sie gleich am Anfang mit der ganzen Wahrheit herausgeplatzt, hätte ihre Mutter ihr vielleicht noch geglaubt, aber nachdem bereits eine Weile verstrichen war, konnte sie gar nicht anders als annehmen, sie hätte sich diese haarsträubenden Geschichten nur ausgedacht, um von ihrem eigenen falschen Verhalten abzulenken und womöglich ihr Mitleid zu wecken. Und vielleicht war das ja noch nicht einmal verkehrt, vielleicht hatte ihr ihre Phantasie ja tatsächlich einen Streich gespielt.