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Auch das war eine Möglichkeit, die Arri immer ernsthafter in Betracht zog, je weiter der Tag fortschritt und je mehr die Erinnerungen an den unheimlichen Fremden mit den sonderbaren Augen verblassten. Möglicherweise hatte sie sich diese Begegnung nur eingebildet. Sie war in Todesangst gewesen, vollkommen in Panik aufgelöst und felsenfest davon überzeugt, im nächsten Augenblick sterben zu müssen. Vielleicht war der Wolf einfach ungeschickt gewesen und hatte sich bei seinem Sprung das Genick gebrochen, und ihre außer Rand und Band geratene Phantasie hatte diesen Fremden einfach erfunden. Schließlich - Geschichten von Kindern, die in gewaltige Gefahr gerieten und im allerletzten Moment von einer geheimnisvollen Macht gerettet wurden, die wie aus dem Nichts erschien und ebenso rasch und spurlos wieder verschwand, hatte sie schon zur Genüge gehört, aber sie wusste eben auch, dass es in den meisten Fällen nur Geschichten waren. Nicht mehr.

Als sie an diesem Abend einschlief - zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit und tatsächlich zum ersten Mal in der Zeit, an die sie sich bewusst zurückerinnern konnte, nicht auf dem Lager neben, sondern in den Armen ihrer Mutter -, nahm sie sich fest vor, ihr spätestens am nächsten Morgen davon zu erzählen, und zuzugeben, warum sie bisher nichts davon gesagt hatte.

Sie tat es auch am nächsten Morgen nicht. Als sie erwachte - sehr früh, noch vor Sonnenaufgang und mit heftigen Kopfschmerzen, die wieder schlimmer geworden waren -, war sie allein. Ihre Mutter hatte die Hütte offensichtlich schon vor Tagwerden verlassen, was ungewöhnlich war; niemand ging vor Sonnenaufgang aus dem Haus, wenn es nicht wirklich einen triftigen Grund dafür gab. Arri war beunruhigt, war aber noch gleichzeitig viel zu müde, um sich tatsächlich Sorgen zu machen. Als sie später dann aufstand, kitzelte sie ein verirrter Sonnenstrahl bereits an der Nase, und sie beeilte sich, um in ihren Garten zu kommen, den sie in letzter Zeit über Gebühr vernachlässigt hatte. Sie pflanzte hier Kohl, Möhren, Erbsen und verschiedene Sorten von Bohnen und Kräutern an und kämpfte einen Kräfte zehrenden Kampf gegen das Unkraut, das vom Waldrand her alles daran setzte, um ihre Anpflanzungserfolge wieder zunichte zu machen.

Auf diese Weise verging der gesamte Tag und auch noch ein guter Teil des darauf folgenden. Ihre Mutter erwies sich als so schweigsam und wortkarg, wie Arri es gewohnt war, und sie ging auch ein paar Mal fort, ohne zu erklären, warum oder wohin, und auch, ohne auf Arris entsprechende Fragen zu antworten, die sie nach ihrer Wiederkehr stellte.

Als ihre Mutter am dritten Tag gegen Abend zurückkam - wieder einmal, ohne dass sie gesagt hatte, wohin sie ging oder warum -, stand Arri auf und eilte ihr entgegen, sobald sie ihre Schritte draußen hörte. Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie jedoch stehen, denn sie begriff, dass ihre Mutter nicht allein war. Sie konnte den vertrauten Rhythmus ihrer Schritte erkennen und ihre Stimme hören, doch dann auch noch eine zweite, männliche Stimme, und noch bevor Arri sich umdrehte und zum Guckloch zurückwich, um einem verstohlenen Blick durch das zurückgezogene Biberfell zu werfen, wusste sie, wer es war.

Und trotzdem verfinsterte sich ihr Gesicht, als sie Rahn erkannte.

Es war nicht einmal die Tatsache allein, dass ausgerechnet Rahn ihre Mutter begleitete. Niemand aus dem Dorf kam hierher, wenn er nicht ihrer Hilfe bedurfte oder es irgendeinen anderen wirklich wichtigen Grund gab, und solange sich Arri zurückerinnern konnte, war fast immer sie es gewesen, die neben ihrer Mutter den steil abfallenden Weg vom Dorf herabging. Sie verspürte ein kurzes, aber eindringliches Gefühl einer fast schon lächerlichen Eifersucht. Was ihren Zorn noch schürte und zumindest für einen Moment fast zu etwas wie Hass machte, das war die Art, auf die Rahn neben ihrer Mutter herging. Obwohl fast einen Kopf kleiner, was dem Ganzen schon wieder etwas ungewollt Komisches gab, hatte er den Arm in einer Besitz ergreifenden Geste um ihre Schulter gelegt, und die Finger seiner Hand spielten unentwegt an ihrem Oberarm. Arri konnte das Gesicht ihre Mutter nicht erkennen, aber sie konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass ihr das gefiel oder sie es auch nur ertrug. Trotzdem machte sie keine Anstalten, Rahns Arm abzustreifen, zumindest nicht, bis sie in Arris Sichtfeld kamen.

Arri trat rasch vom Guckloch zurück, wandte sich zur Tür und bemühte sich, eine möglichst strafende Miene aufzusetzen, als sie die Schritte ihrer Mutter auf der Stiege hörte. Wenn Lea glaubte, die beiden zurückliegenden Tage hätten irgendetwas an ihrer Meinung über Rahn und das, was sie mit ihm tat, geändert, so irrte sie sich. Ganz egal was die beiden miteinander taten und warum, Arri würde diesen Dummkopf nicht willkommen heißen, nur weil es ihm gelungen war, ihre Mutter irgendwie zu verzaubern.

Lea war jedoch allein, als sie hereinkam. Mit einer unbewussten Bewegung bückte sie sich unter dem Muschelvorhang hindurch, machte einen einzelnen Schritt und blieb dann stehen, um Arri stirnrunzelnd anzublicken. »Hast du irgendetwas?«

Arri schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum, und sie musste die Gedanken ihrer Mutter nicht lesen, um zu erkennen, wie wenig Glauben sie ihr schenkte. Seltsamerweise ging sie jedoch nicht weiter darauf ein, sondern setzte ihren unterbrochenen Weg fort und sagte in fast beiläufigen Ton: »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir deine Ausbildung wieder aufnehmen. Das Jagd-Ernte-Fest steht bereits vor der Tür, und danach wird es nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fällt.«

Arri empfand es geradezu als boshaft, dass sie Nors Drohung benutzte, um von Rahn abzulenken. Mit einer fast zornigen Kopfbewegung trat sie an das Guckloch, durch das sie ihre Mutter und Rahn beobachtet hatte. »Du warst wieder mit ihm zusammen.«

Lea blieb abermals stehen, und als sie sich jetzt zu Arri umwandte, verdunkelte Zorn ihr Gesicht. Der scharfe Verweis, auf den Arri wartete, kam jedoch nicht. »Ja«, sagte sie nur. »Aber nicht so, wie du vielleicht glaubst.« Und wäre es so, ginge es dich nichts an. Das sprach sie zwar nicht aus, aber die Worte standen so deutlich in ihren Augen geschrieben, dass Arri sie beinahe zu hören glaubte.

Sie gemahnte sich zur Vorsicht. Ihre Mutter hatte ihr in den letzten Tagen wiederholt klargemacht, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau, aber sie kannte sie auch wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie sich ganz gewiss nicht irgendwelche Unverschämtheiten von ihr gefallen ließe oder auch nur etwas, das sie dafür hielt. Trotzdem fragte sie: »Was habt ihr denn dann zusammen gemacht?«

Der Zorn in den Augen ihrer Mutter wuchs noch weiter, aber sie blieb auch jetzt erstaunlich ruhig. »Ich hatte etwas mit ihm zu besprechen. Und mit Grahl. Weißt du, Arianrhod...«, seitdem ihre Tochter mit der Armwunde aus dem Wald zurückgekommen war, nannte sie sie nicht mehr Arri, sondern sprach sie mit ihrem vollen Namen an, wie um auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie sie als ebenbürtig akzeptierte, »... in diesem Punkt hätte ich vielleicht auf dich hören sollen. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, einen anderen Mann aus dem Dorf auszuwählen, damit er für mich arbeitet. Rahn ist ein solcher Dummkopf. Man muss ihm alles fünfmal erklären, und selbst dann macht er es wahrscheinlich noch falsch, wenn man ihm nicht unentwegt auf die Finger schaut.«