»Lenk nicht ab«, erwiderte Arri, und das war nun eindeutig zu viel, wie sie in den Augen ihrer Mutter las. Der erwartete Zornesausbruch kam zwar immer noch nicht, doch als sie antwortete, war ihre Stimme hörbar kühler und schuf eine Distanz zwischen ihnen, die Arri zwar nur zu gut kannte, von der sie aber gehofft hatte, sie endgültig überwunden zu haben.
»Ich sehe, dass du dich von deiner Armverletzung erholt hast«, sagte sie spröde. »Das ist gut. Es ist jetzt wirklich an der Zeit, deine Ausbildung fortzusetzen. Und sei dir sicher: Ab heute werde ich dir des Nachts nicht nur das Kämpfen beibringen, sondern auch das Rechnen und ein paar andere Fertigkeiten, die du dringend benötigen wirst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie zur rückwärtigen Wand des Zimmers, nahm das Schwert herunter und warf es Arri ansatzlos und aus dem Handgelenk zu, noch während sie sich wieder zu ihr umdrehte. Arri griff ganz instinktiv zu, und sie bekam die Waffe sogar am Griff zu fassen; allerdings durch nichts anderes als pures Glück und nicht etwa durch eigenes Geschick. Unter dem Gewicht des Schwertes taumelte sie einen Schritt zurück und fand nur mit Mühe ihr Gleichgewicht wieder.
»Was... warum hast du das getan?«
»Damit du dich schon einmal an das Gewicht gewöhnst. Bisher haben wir mit Stöcken gekämpft, aber ich finde, du bist jetzt so weit, auch damit zu üben. Freust du dich schon darauf?«
Arri antwortete gar nicht, sondern starrte ihre Mutter und das mehr als armlange, in einer geheimnisvollen Farbe schimmernde Schwert in ihrer Hand nur verständnislos an. Dieses Schwert war der größte Schatz, den ihre Mutter besaß, vielleicht das einzig wirklich Wertvolle, was sie überhaupt auf der Welt hatte. Sie hatte nie jemandem gestattet, es auch nur anzurühren. Natürlich hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als eines Tages dieses Schwert in der Hand zu halten und vor allem zu lernen, damit so umzugehen wie ihre Mutter, aber sie hatte es niemals auch nur gewagt, diesen Wunsch laut zu äußern. Umso überraschter war sie nun.
Aber vielleicht war sie nicht nur überrascht. Selbstverständlich hatte es ihr Freude bereitet, dass ihre Mutter ihr nicht nur ihr verborgenes Wissen um die geheimen Kräfte der Natur beibrachte, sondern sie auch lehrte, zu kämpfen und sich zu verteidigen, und das auf eine Weise, die sie noch vor wenigen Mondwenden für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Bisher aber war es trotz allem nichts anderes als ein großes, aufregendes Spiel für sie gewesen. Trotz aller Einschärfungen ihrer Mutter, gerade das nicht zu tun, hatte sie sich selbstverständlich insgeheim an dem Gedanken erfreut, was für Gesichter die Kinder aus dem Dorf machen würden, wenn sie sie das nächste Mal verspotteten, sie einen arbeitsscheuen Nichtsnutz nannten oder gar angriffen und sie ihnen die eine oder andere unangenehme Überraschung bereiten könnte, und die schönste von all diesen Vorstellungen war selbstverständlich die gewesen, das irgendeines Tages mit Rahn zu tun.
Sie hatte auch davon geträumt, dieses Schwert zu führen, doch jetzt, als sie das überraschend große Gewicht der Waffe in der Hand spürte, war da plötzlich etwas ganz anderes. Vielleicht war es einfach die Erinnerung an das, was ihre Mutter mit diesem Schwert getan hatte. Plötzlich glaubte sie noch einmal zu sehen, wie die Klinge fast ohne Widerstand durch Krons Fleisch und Knochen schnitt und seinen Arm so sauber abrennte, wie sie selbst eine Wildblume pflücken mochte. Wenn ihre Mutter und sie miteinander kämpften, dann taten sie es mit bloßen Händen oder allenfalls mit Stöcken. Sie versuchten sich zu treffen, und mehr als einmal war aus diesem freundschaftlichen Kräftemessen beinahe Ernst geworden - und doch war es ein gewaltiger Unterschied. Ein Stockschlag tat weh und konnte üble Folgen haben, führte im Allgemeinen aber zu kaum mehr als einem blauen Fleck oder allenfalls einem gebrochenen Arm, wenn man sehr viel Pech hatte.
Diese Waffe war dagegen zum Töten da. Ihr Biss zerriss Fleisch und spaltete Knochen. Eine Waffe wie diese gegen einen Menschen zu richten, das hieß nicht, ihn zu verprügeln oder ihn mit einem geprellten Arm oder schlimmstenfalls humpelnd nach Hause zu schicken, wie sie es in ihrer Vorstellung schon zahllose Male mit Osh und den anderen Rabauken aus dem Dorf getan hatte. Dieses Schwert gegen einen Menschen zu richten bedeutete etwas Endgültiges.
»Bist du... sicher?«, fragte sie.
Ihre Mutter nickte. »Wenn du es bist.«
Arri glaubte zu spüren, dass die Antwort darauf wichtig war, und wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie spätestens in diesem Augenblick den Kopf geschüttelt und ihrer Mutter die Waffe zurückgegeben. Aber sie hatte nicht den Mut dazu.
Schweigend reichte sie ihrer Mutter das Schwert zurück. Lea nahm die Waffe mit undeutbarem Ausdruck entgegen und zögerte, sie an ihren Platz an der Wand zurückzuhängen, als spüre sie, was in ihrer Tochter vorging. Möglicherweise hätte sie auch eine entsprechende Frage gestellt, doch in diesem Moment erklang draußen vor der Hütte ein lautstarkes Poltern und Scharren, und dann drang Rahns ungeduldige Stimme zu ihnen herein. »Le? Le - wo bleibst du?«
Arri zog fragend die Augenbrauen hoch. Le? Lea war bereits die Abkürzung von Leandriis wirklichem Namen. Wieso kürzte dieser Trottel eine Abkürzung ab?
Ihre Mutter seufzte tief. »Was für ein Dummkopf.«
»Warum gibt du dich dann mit ihm ab?« Arri wusste, dass sie sich jetzt besser mucksmäuschenstill verhalten hätte, aber sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen.
Die Antwort ihrer Mutter fiel überraschend friedfertig aus. »Weil ich ihn brauche, Arianrhod. Nicht nur, um das Lager mit ihm zu teilen.«
Bedeutete dieses fast unmerkliche Zögern in ihren Worten einen versteckten Tadel? Arri wusste, dass ihre Mutter solche versteckten Hinweise liebte. »Warum?«, fragte sie.
»Weil ich ihn mit dem Wagen ins nächste Dorf schicke«, antwortete Lea. »Es sind zwei, drei Tage hin und noch einmal zwei Tage zurück, mindestens. Wenn dieser Dummkopf sich nicht verirrt, heißt das.«
»Bis zum nächsten Dorf ist es gerade mal ein knapper Tagesmarsch«, begehrte Arri auf.
»Ein Tagesmarsch, du sagst es«, bestätigte ihre Mutter. »Ein Ochsenkarren ist viel langsamer, und er kann nicht durch die Wälder fahren, sondern muss große Umwege machen...«, sie zog eine spöttische Grimasse, »... vor allem, wenn Rahn die Zügel in der Hand hält.«
Vielleicht verirrt er sich ja und kommt gar nicht zurück, dachte Arri hoffnungsvoll. Und da gab es ja auch noch die Wölfe...
Sie sprach auch diesen Gedanken nicht laut aus, aber etwas von ihren Gefühlen musste sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn ihre Mutter zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, konnte aber zugleich ein spöttisches Funkeln nicht ganz aus ihrem Blick verbannen. Bevor sie sich umdrehte und die Hütte verließ, wandte sie sich noch einmal ganz dem Schwert zu, das sie wieder an seinem angestammten Platz an der Wand befestigt hatte, und es schien Arri, als dächte sie einen Moment darüber nach, die Waffe wieder herunter- und mitzunehmen. Sie tat es nicht, aber die Bewegung war Arri nicht entgangen, so wenig, wie es ihrer Mutter entgangen sein konnte, dass sie es gemerkt hatte. Als Lea die Hütte schließlich verließ, machte Arri eine ganz instinktive Bewegung, ihr zu folgen, besann sich dann aber eines Besseren und trat wieder an das Guckloch heran, durch das sie Rahn und ihre Mutter vorhin schon beobachtet hatte.
Die beiden hatten sich wieder ein Stück von der Hütte entfernt und standen auf Armeslänge voneinander da. Sie waren nicht nahe genug und sprachen zu leise, als dass Arri hätte verstehen können, was sie redeten, doch dafür war Rahns Körpersprache umso deutlicher: Er fuchtelte unentwegt mit den Händen und hatte Schultern und Kinn kampflustig nach vorne gereckt. Ganz offensichtlich war er nicht mit dem einverstanden, was Lea von ihm verlangte. Was ihm natürlich bei ihrer Mutter nichts nutzte.