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Auf dem Gesicht ihrer Mutter lag ein Ausdruck tiefer Bestürzung, als Arri sich schließlich zu ihr umwandte - oder war es Furcht? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie ihre Mutter selten zuvor so aufgewühlt erlebt hatte; wenn sie es recht bedachte, eigentlich noch nie.

»Was wollte er von dir?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete ihre Mutter. Sie versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber es misslang und geriet zu einem Ausdruck, der ihre Unsicherheit nur noch unterstrich. Dennoch schüttelte sie bekräftigend den Kopf und sagte noch einmaclass="underline" »Nichts. Jedenfalls nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die Arri ebenso wenig überzeugte wie das kläglich misslungene Mienenspiel. »Er ist ein alter Dummkopf, das weißt du doch. Ich glaube, er hat Recht mit dem, was er gesagt hat: Er wird nicht nur allmählich alt, sondern auch sonderbar.«

Als alten Dummkopf hatte sie ihn schon öfter bezeichnet, und doch war diesmal etwas anders: In Arris Ohren klang das Wort sonderbar ganz eindeutig so, als hätte ihre Mutter in Wahrheit gefährlich gesagt. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Mutter fragend an - und noch etwas Neues geschah, das sie vielleicht nach allem Sonderbaren der letzten Augenblicke am allermeisten verwirrte: Ihre Mutter senkte den Kopf und wich ihrem Blick aus. Das war ganz eindeutig noch niemals geschehen.

»Warum gibst du ihm nicht einfach, was er von dir will?«, fragte Arri.

Für einen kurzen Moment las sie nichts als Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter, als hätte sie die Worte zwar verstanden, wüsste aber nicht wirklich etwas damit anzufangen. Darauf folgte - ganz kurz, aber Arri sah es trotzdem - ein Ausdruck von Erschrecken, den sie jedoch ebenso schnell niederkämpfte, wie er gekommen war, und der dann einem milden, verstehenden Lächeln Platz machte, das Arri wie ein Faustschlag traf. »Ich fürchte, dass das nicht geht.«

»Und warum nicht?«, hakte Arri nach, fast schon ein bisschen frech. Das gönnerhafte Lächeln verblieb auf dem Gesicht ihrer Mutter und machte sie noch wütender. »Ich habe nicht alles gehört, aber ich weiß, dass er dich bedroht hat. Er wird dir Ärger machen, wenn du ihm nicht gibst, was er von dir will. Was ist es denn überhaupt?«

»Keine Sorge«, antwortete ihre Mutter. Sie hatte offensichtlich beschlossen, den letzten Teil von Arris Frage zu überhören.

»Er wird mir nichts tun. Er weiß genau, dass er das, was er von mir will, dann erst recht nicht bekäme.« Sie machte eine kleine, aber befehlende Geste mit der linken Hand, als Arri Luft holte, um erneut nachzuhaken. »Es ist jetzt gut. Geh zur Kochstelle und setz das Feuer in Gang. Ich werde uns etwas zu essen machen.«

»Jetzt schon?«, fragte Arri verblüfft. »Soll ich nicht erst noch in den Garten? Ich müsste dringend Unkraut zupfen.«

»Das Unkraut läuft dir nicht davon. Und außerdem möchte ich nicht, dass du dich heute Abend noch am Waldrand herumtreibst. Die Jäger haben erst gestern wieder Wolfsspuren im Wald gefunden. Gar nicht weit von hier.«

Als ob Wölfe so dumm wären, sich in die Nähe einer Hütte zu wagen, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. So etwas taten Wölfe nicht, die jagten eher verirrten Schafen hinterher. Aber Arri war klug genug, den gereizten Tonfall ihrer Mutter zu bemerken und diesen Gedanken für sich zu behalten. Wenn sie jetzt nicht gehorchte, dann würde es gleich wirklich unangenehm werden, und für einen einzigen Nachmittag, fand Arri, hatte sie schon genug in dieser Hinsicht erlebt. Es fehlte ihr noch, dass sie eine Abreibung bekam, nur weil ihre Mutter ihre schlechte Laune an niemand anderem als an ihrer Tochter auslassen konnte.

Als Arri immer noch keine Anstalten machte, ihrem Befehl nachzukommen, sondern einfach weiter dastand und sie anstarrte, wedelte ihre Mutter ungeduldig mit der Hand. »Geh endlich. Und beeil dich mit dem Feuermachen.«

Das war die unwiderruflich letzte Warnung, und nun beeilte sich Arri, fuhr auf der Stelle herum und trat so schnell durch die Türöffnung, dass sie um ein Haar die oberste Stufe verfehlt hätte und sich nur im allerletzten Moment an dem aus Eschenholz gefertigten Geländer festhalten konnte, das die Stiege zierte. Sie selbst hatte Tage damit zugebracht, nicht nur einen besonders gerade gewachsenen Stamm des seltenen Baumes zu suchen, sondern auch seine Rinde abzuschälen und ihn so lange mit feinem Sand und Blättern zu polieren, bis er so hart und glänzend wie ein sorgfältig abgekochter Knochen aussah und ihre Hände ganz rot und an manchen Stellen schon blutig gewesen waren. Und sie hatte ihre Mutter mehr als einmal in Gedanken dafür verflucht, ihr diese Arbeit aufgehalst zu haben, und sich gefragt, was sie sich eigentlich hatte zu Schulden kommen lassen, um derart bestraft zu werden. Keine andere Hütte im Dorf hatte ein Geländer, das zu nichts nutze war und nicht einmal schön aussah!

Während sie jetzt mit klopfendem Herzen dastand und darauf wartete, dass ihre Knie zu zittern aufhörten, nahm sie in Gedanken alles zurück und bedankte sich im Stillen bei ihrer Mutter. Dieses nutzlose, hässliche Ding hatte sie gerade vor einem üblen Sturz bewahrt.

Ein Rascheln hinter dem großen Holunderstrauch, aus dessen Früchten ihre Mutter einen schweißtreibenden, stärkenden Tee zu bereiten pflegte, schreckte sie aus den Gedanken auf. Schlich sich dort vielleicht gerade einer der Wölfe an, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte? Arri war schon drauf und dran, wieder kehrtzumachen und die Stiege hinaufzueilen, als sie das bärtige Gesicht eines ihr nur flüchtig bekannten Mannes entdeckte und dann die dunklen Kleider zwischen den verkrüppelten Stämmen hindurchschimmern sah.

Es war der Krieger aus Goseg, der Mann, den Nor zu der Unterredung mit ihrer Mutter mitgebracht hatte. Er starrte sie noch eine Weile schweigend an, drehte sich dann um und verschwand mit weit ausgreifenden, fast ärgerlich wirkenden Schritten in Richtung Dorf.

2

Schweigend half Arri ihrer Mutter, den Fisch auszunehmen und die Kräuter, Wurzeln und frischen Karotten aus ihrem kleinen Gärtchen vorzubereiten, die sie dazu essen würden. Ihre Mutter hatte bereits am Vormittag frisches Fladenbrot gebacken, sodass es keiner allzu langen Vorbereitungen mehr bedurfte.

Die Sonne war kaum untergegangen, da erfüllte der köstliche Geruch von gebratenem Fisch die Hütte, der Arri nicht nur das Wasser im Munde zusammenlaufen, sondern auch ihren Magen hörbar knurren ließ. Ihre Mutter beantwortete dies mit dem ersten, flüchtigen Lächeln, das sie ihr an diesem Tag zeigte, bestand aber wie üblich darauf, dass sie sich gründlich das Gesicht und vor allem die Hände wusch, bevor sie aßen. Auch das war etwas, das Arri nicht verstand und das sie für ziemlich unsinnig hielt; niemand im Dorf tat so etwas, und Arri hatte schon ein paar Mal gegen diese vermeintliche Willkür aufbegehrt, aber ohne Erfolg.

Heute erschien es ihr noch weniger ratsam als sonst, ihre Mutter noch mehr zu verärgern, und so ergab sie sich in ihr Schicksal und wusch sich gehorsam mit dem eiskalten Wasser, das wie jeden Abend in einer flachen hölzernen Schale bereitstand. Sie musste zugeben, dass es gut roch und sie auch ein wenig erfrischte; ihre Mutter pflegte das Wasser mit Kräutern zu versetzen, die sie im Wald sammelte - aber das kalte Nass jagte ihr auch einen kribbelnden Schauer über den Rücken. Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es schnell kalt. Auch wenn die Tage noch lang waren und die Sonne manchmal bis weit in den Abend hinein heiß vom Himmel brannte, so neigte sich der Sommer doch bereits deutlich dem Ende entgegen, was man gerade nach Einbruch der Dunkelheit jeden Tag ein bisschen mehr spürte.