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»Wieso weiß niemand etwas davon?«, fragte sie verwundert.

»Weil die Menschen im Dorf ein abergläubisches Pack sind, denen man nur irgendwelche Geschichten von Geistern, zornigen Göttern und sechsköpfigen Ungeheuern erzählen muss, um ganz sicherzugehen, dass sie niemals hierher kommen werden.«

»Hast du ihnen diese Geschichten erzählt?«, fragte Arri.

»Ich?« Lea schüttelte heftig den Kopf und grinste spitzbübisch. »Warum hätte ich das tun sollen? Sie hätten mir doch sowieso nicht geglaubt. Nein, ich habe es Rahn erzählt, und er hat es Sarn erzählt, und wie es der Zufall will, hat unser geliebter Dorfältester und Schamane des Nachts sonderbare Lichter im Wald gesehen und noch sonderbarere Geräusche gehört, als er eines Tages herkam, um sich mit eigenen Augen vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu überzeugen. Nein.« Sie schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf und fuhr dann in ernstem Ton fort: »Niemand weiß von dem hier, und das muss auch so bleiben. Wüssten diese Dummköpfe, bei denen wir leben, von Nachtwind und seiner Herde, dann würden sie ihn jagen und abschlachten, um sein Fleisch zu essen. Ich bin die Einzige, die von ihm weiß - und jetzt du.«

»Und du hast mir die ganze Zeit über nichts davon erzählt?«, fragte Arri. Sie war ein wenig enttäuscht. Ihre Mutter hatte ihr gerade ein großes Geheimnis verraten, was sicherlich ein Vertrauensbeweis war, hatte aber im gleichen Atemzug auch gesagt, dass sie dieses Geheimnis lange Zeit vor ihr verborgen gehalten hatte. Warum?

»Ich konnte dir nichts sagen, Arianrhod. Du warst ein Kind.«

»Ich hätte niemandem etwas verraten!«, begehrte Arri auf.

»Sicherlich nicht absichtlich. Aber dieses Geheimnis ist zu groß und zu wertvoll, um es mit irgendeinem anderen auf der Welt zu teilen. Du bist jetzt die Einzige außer mir, die davon weiß, und du musst mir schwören, dass du es niemandem verrätst. Es wäre ihrer aller Tod. Die Leute würden sie fangen und schlachten oder in einen Pferch sperren und sie schwere Arbeiten verrichten lassen. Nachtwind könnte so nicht leben, ebenso wenig wie du oder ich. Versprich mir, dieses Geheimnis in deinem Herzen zu bewahren.«

Arri nickte.

»Das genügt mir«, sagte Lea. Plötzlich lachte sie wieder. »Und jetzt haben wir genug der hehren Worte und gewichtigen Versprechen ausgetauscht. Lass uns den Rest Tageslicht nutzen und ein wenig mit unseren neuen Freunden spielen. Komm ich stelle dir den Rest der Herde vor.«

9

Sie waren noch fast bis Sonnenuntergang geblieben, und obwohl Arri die meiste Zeit über schweigsam und eher zurückhaltend gewesen war und sich (mit mehr oder weniger Erfolg) einzureden versucht hatte, dass sie dieses kindische Spiel nur mitmachte, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, vermochte sie sich der Faszination, die von den großen, stolzen Tieren ausging, auf Dauer doch nicht zu entziehen. Erst als sich der Himmel im Westen bereits eindeutig grau färbte, machten sie sich auf den Rückweg.

Bei Dunkelheit erwies es sich als noch schwieriger, den verbotenen Wald zu durchqueren, als bei Tage, sodass der Nachtzenit bereits überschritten sein musste, bis Arri schließlich - erschöpft und völlig entkräftet, aber auch auf eine sonderbare Weise zufrieden, die sie sich selbst nicht genau erklären konnte und die ihr aber das intensive Gefühl gab, plötzlich Teil von etwas Neuem und sehr Kostbarem geworden zu sein - neben ihrer Mutter aus dem Wald trat und die wenigen Schritte zu ihrer Hütte zurücklegte. Als sie die Stiege fast erreicht hatten, blieb ihre Mutter abrupt stehen und hob die rechte Hand. Ihr linker Arm, der das Schwert hielt, blieb locker, doch Arri entging keineswegs, dass sich ihre Finger fester um den lederbezogenen Griff der Waffe schlossen.

»Was ist?«, fragte sie erschrocken.

»Nichts«, behauptete Lea. Ihr Gesichtsausdruck und ihre plötzlich angespannte Haltung besagten jedoch das Gegenteil. Auch Arri sah sich hastig nach allen Seiten hin um und lauschte einen Moment, so angestrengt sie konnte, aber ihr fiel nichts auf. Dennoch begann ihr Herz zu klopfen. Wenn ihre Mutter der Meinung war, etwas gehört zu haben, dann war da etwas. Obwohl Lea nicht müde wurde, ihr immer wieder zu versichern, dass ihre noch frischen jugendlichen Sinne viel schärfer waren als die jedes Erwachsenen, verging doch praktisch kein Tag, an dem sie ihr nicht bewies, dass zumindest sie eine Ausnahme von dieser Regel darstellte.

»Bleib zurück«, zischte sie, unbeschadet dessen, was sie gerade selbst gesagt hatte, wechselte das Schwert von der linken in die rechte Hand und bewegte sich, seitwärts gehend, nur auf den Zehenspitzen und vollkommen lautlos die Stiege hinauf. Unmittelbar vor dem Vorhang blieb sie stehen und lauschte, und dann drückte ihre Haltung plötzlich nichts anderes als blanke Überraschung aus. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, folgte Arri ihrer Mutter.

Lea war geduckt und durch und durch angespannt unter der Tür stehen geblieben. Mit der linken Hand hatte sie - ohne auch nur den geringsten Laut zu verursachen - den Muschelvorhang beiseite geschoben, sodass Arri an ihr vorbei in die Hütte blicken konnte. Ein leises, auf merkwürdige Weise vertraut erscheinendes Geräusch drang an ihr Ohr. Im allerersten Moment sah Arri so gut wie nichts, aber ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, und dann konnte sie die Verblüffung ihrer Mutter nur zu gut verstehen. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte etwas Gespenstisches. Durch die Gucklöcher drang nur das blasse Licht der Nacht herein, sodass sie die Umrisse aller Dinge in der Hütte mehr erahnte als wirklich erkannte, aber das machte das Bild eher noch unheimlicher.

Sarn, der Dorfälteste, saß in Leas aufwändig gefertigtem, aber bereits an vielen Stellen gerissenen Korbstuhl und hatte Kopf und Schultern gegen die geflochtene hohe Lehne sinken lassen. Er schnarchte mit weit offen stehendem, zahnlosem Mund. Sein mit bunten Federn geschmückter Umhang war im Schlaf über seiner Brust auseinander gefallen, sodass man seinen ausgemergelten, dürren Leib darunter erkennen konnte. Ein dünner Speichelfaden, der im hereinfallenden Mondlicht wie nasses Silber glänzte, lief aus seinem Mundwinkel und besabberte den Kragen seines Federumhangs. Sarn war nicht allein gekommen. Eine zweite, ebenfalls schlafende Gestalt hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und schnarchte mit ihm um die Wette. Es war zu dunkel, als dass Arri ihr Gesicht hätte erkennen können, aber anhand seiner Gestalt vermutete Arri, dass es sich um Grahl handelte.

Lea blieb noch einige Augenblicke reglos unter der Tür stehen und schüttelte immer wieder den Kopf, als könne sie einfach nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Dann schlug sie mit einem Ruck den Vorhang vollends beiseite und polterte so lautstark in die Hütte hinein, dass die schlafende Gestalt am Boden mit einem Ruck aufsprang und Sarn so erschrocken zusammenfuhr, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre. Arri hätte am liebsten laut aufgelacht, aber das wäre vermutlich unangebracht gewesen; irgendwie gelang es ihr, sich zu beherrschen.

Ihre Mutter schien da weit weniger Skrupel zu haben. Sie lachte zwar nicht schallend auf, sondern beließ es bei einem kurzen, spöttischen Laut, aber irgendwie hörte es sich in Arris Ohren genau so an - und ganz offensichtlich nicht nur in ihren. Grahl funkelte sie zornig an, während Sarn im allerersten Moment einfach nur orientierungslos ins Leere starrte. Schlaftrunken versuchte er sich in die Höhe zu stemmen und wäre um ein Haar nun endgültig vom Stuhl gefallen. Der Stock rutschte ihm von den Knien und polterte so lautstark zu Boden, dass Grahl heftig zusammenfuhr und sein Blick das Gesicht ihrer Mutter losließ.

»Guten Morgen, die Herren«, sagte Lea ruhig. »Ich hoffe doch, ich habe euch nicht zu unsanft geweckt?«

Grahl war klug genug, gar nichts zu sagen, sondern fuhr sich nur mit dem Handrücken über das Gesicht und versuchte sich den Schlaf aus den Augen zu blinzeln, während sich Sarn Sabber vom Mund wischte und zumindest zu antworten versuchte. Er brachte im ersten Moment aber nur ein unverständliches Krächzen zustande, räusperte sich und nutzte die gewonnene Zeit, um ein paar Mal zu blinzeln. In die Benommenheit in seinem Blick mischte sich eine Art müder Zorn, der aber wohl mehr aus seinem Verstand als aus seinem Herzen kam.