Das wütende Aufblitzen in Sarns Augen gab ihrer Einschätzung Recht. Für einen winzigen Moment sah der alte Mann tatsächlich so aus, als wolle er seinen Stock nehmen und sich auf Lea stürzen. Natürlich tat er es nicht, und doch spürte Arri, dass ihre Mutter mit diesen letzten Worten eine Grenze überschritten hatte, die besser unangetastet geblieben wäre. Es gab Wahrheiten, die alle kannten und die vielleicht doch nur so lange erträglich blieben, wie niemand sie aussprach.
»Ihr seid also nur hierher gekommen und habt die halbe Nacht auf mich gewartet«, fuhr sie fort, als Sarn nicht antwortete und auch Grahl ebenso beharrlich schwieg, wie er sie mit kaum noch verhohlener Wut anstarrte, »um mir zu sagen, dass ihr mir nicht traut?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ihr hättet euch die Mühe sparen können. Das wusste ich bereits.«
»Was ist das für ein Unsinn, den du meinem Bruder einflüstern willst?« fragte Grahl schließlich. »Bist du völlig von Sinnen? Reicht es dir nicht, was du ihm bisher angetan hast?«
»Angetan?«, wiederholte Lea und sah den Jäger mit ehrlicher Verständnislosigkeit an.
»Du hast ihm den Arm abgeschnitten«, antwortete Sarn an seiner Stelle. »Du hast ihn zu einem Krüppel gemacht, der den Rest seines Lebens auf die Almosen anderer angewiesen sein wird.«
»Ein Rest, den er sonst nicht gehabt hätte«, sagte Lea scharf. In ihrer Stimme war plötzlich ein neuer Klang. Nichts von alledem, was der Schamane und Grahl bisher gesagt hatten, hatte sie wirklich treffen oder gar verletzen können, doch dieser Vorwurf, das spürte Arri, ging eindeutig zu weit. Sie sah ihrer Mutter an, dass sie sich noch mit letzter Kraft beherrschte, einigermaßen ruhig zu bleiben.
»Du hast ihn verkrüppelt«, beharrte Sarn stur, als hätte er diese Worte gar nicht gehört, »und jetzt willst du ihn auch noch zum Gespött aller anderen machen.«
»Oh«, murmelte Lea. »Er hat es dir erzählt, ich verstehe.« Sie schwieg für eine geraume Zeit und schüttelte traurig den Kopf. Nach einem kurzen resignierenden Seufzen fuhr sie fort. »Das ist schade. Er hatte mir versprochen, nichts zu sagen. Es hätte so vieles leichter gemacht, nur noch eine kleine Weile zu schweigen.«
»Du hast ihm dieses Versprechen abgepresst«, behauptete Sarn, »oder ihn mit deinen Hexenkräften dazu gebracht, es dir voreilig zu geben. Was wolltest du damit erreichen? Hat dir das, was du ihm angetan hast, immer noch nicht gereicht? Du hast ihm das Leben gerettet, aber vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest es nicht getan.«
Ganz kurz blitzte es so wütend in Leas Augen auf, dass Sarn zusammenfuhr und sich Grahl sichtbar spannte, dann aber erlosch ihr Zorn ebenso plötzlich, wie er gekommen war, und machte einem Ausdruck mindestens ebenso tiefen Bedauerns Platz. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wir wären überhaupt nicht hierher gekommen«, murmelte sie, aber nicht als Antwort auf Sarns Worte, sondern nur an sich selbst gewandt, und so leise, dass Arri nicht einmal sicher war, dass der Schamane und sein Begleiter die Worte überhaupt hörten. Nach einem neuerlichen Zögern, fuhr sie lauter und in verändertem, nunmehr um reine Sachlichkeit bemühtem Ton fort: »Das ist deine Meinung, Sarn. Ich glaube, dass es richtig war, und ich glaube auch, dass mein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird.«
»Und wenn nicht?«
»Eben - und wenn nicht«, erwiderte Lea. Sie schüttelte den Kopf. »Gib mir, Kron und Achk nur ein paar Tage Zeit. Sollte ich scheitern, verliert ihr alle nichts, im Gegenteiclass="underline" Du kannst jedem sagen, du hättest es gleich gewusst und wärest von Anfang an dagegen gewesen. Sollte ich Erfolg haben, profitieren alle davon. Und du, Sarn, kannst hinterher immer noch behaupten, es wären nur meine Hexenkräfte gewesen.« Ihre Stimme veränderte sich ein ganz kleines bisschen, kaum hörbar, und doch schwang etwas darin mit, das Sarn noch ein bisschen blasser werden ließ, auch wenn Arri dies vor wenigen Augenblicken noch gar nicht für möglich gehalten hätte.
»So oder so«, fuhr sie fort, »bist du auf jeden Fall gut beraten, nichts zu tun, bis Rahn zurück ist. Vermutlich könntest du mich daran hindern, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, doch dann gäbe es immer welche im Dorf, die sich fragen würden, ob du es vielleicht nicht nur getan hast, weil du Angst hattest, ich könnte Erfolg haben. Warte einfach ab und lass mich gewähren, und du kannst nur gewinnen.«
Arri verstand mittlerweile rein gar nichts mehr. Zwar war ihr klar, dass es irgendetwas mit dem zu tun hatte, weswegen ihre Mutter Rahn fortgeschickt hatte, und wohl auch mit Grahls Bruder und dem blinden Mann, aber nichts davon schien in diesem Moment irgendeinen Sinn zu ergeben. Darüber hinaus kreisten ihre Gedanken um ein vollkommen anderes Thema. Die Spuren, die Sarn erwähnt hatte. Die Fremden, von denen Grahl behauptete, sie hätten ihn und seine beiden Brüder so grundlos angegriffen, und an deren Existenz ihre Mutter so offensichtlich nicht glaubte. Sie hätte es ihr sagen können. Sie hätte es ihr schon vor drei Tagen sagen müssen. Es waren keine Gerüchte, und es waren auch nicht nur Spuren. Die Fremden waren hier. Arri hatte mindestens einen von ihnen gesehen, und auch wenn dieser eine ihr das Leben gerettet hatte, sagte das rein gar nichts über ihre Ziele aus. In ihr sträubte sich alles, dem Schamanen Recht zu geben, aber in diesem einen Punkt hatte er es womöglich. Warum schwieg sie? Warum hatte sie bislang nichts gesagt?
Arri spürte, dass dies vielleicht ihre unwiderruflich letzte Gelegenheit war, von ihrer unheimlichen Begegnung im Wald zu erzählen, zugleich wusste sie aber auch, dass ihr niemand glauben würde. Sarn würde behaupten, ihr zu glauben, es aber nicht wirklich tun, und ihre Mutter schon gar nicht - und wenn doch, so würde sie sehr wütend sein, dass sie, Arri, nicht längst davon erzählt hatte, sondern im allerungünstigsten aller nur denkbaren Augenblicke damit herausrückte.
»Es ist spät, Ältester«, sagte Lea. »Meine Tochter und ich sind jedenfalls müde. Zweifellos habt auch ihr beide morgen einen mühsamen und anstrengenden Tag vor euch und braucht euren Schlaf.«
Das war ein kaum verhohlener Hinauswurf, eine schiere Ungeheuerlichkeit, die Sarn unter gewöhnlichen Umständen niemals hingenommen hätte. Doch an diesem nächtlichen Treffen war nichts gewöhnlich. So funkelte er Lea nur noch zornig an, dann eilte er, übertrieben schwer mit seinem Stock aufstampfend, zur Tür und ging vorsichtig die schmalen Stufen hinunter. Grahl - der ihre Mutter in so großem Bogen umging, wie es überhaupt möglich war - folgte ihm, und sie konnte hören, wie die beiden lautstark und heftig miteinander zu streiten begannen, kaum dass sie unten angekommen waren und sich auf den Weg ins Dorf machten.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten trat Lea rasch ans Guckloch und blickte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie aufgesogen hatte. Ihre Stimmen waren noch einen Moment zu hören, verklangen dann aber. »Dieser dumme, alte Mann«, seufzte Lea. »Er weiß genau, was Nor von mir gefordert hat und dass ich entweder an Einfluss verlieren werde oder zusammen mit dir weggehe. Warum kann er es nicht einfach dabei bewenden lassen und Ruhe geben?«
Sag es ihr!, flüsterte eine Stimme in Arris Gedanken. Jetzt! Sie musste ihr von dem Fremden erzählen, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Mutter ihr vielleicht nicht glauben oder, falls sie es doch tat, sehr wütend auf sie sein würde.