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Aber sie schwieg.

Ihre Mutter trat vom Guckloch zurück, lehnte das Schwert gegen die Wand darunter und verhängte die Öffnung dann mit einem Biberfell. Erst nachdem sie auch mit dem zweiten Guckloch auf die gleiche Weise verfahren war, nahm sie das Schwert wieder zur Hand, trug es aber nicht an seinen Platz an der Wand zurück, wie Arri erwartet hatte, sondern betrachtete die Waffe auf eine sehr sonderbare, schwer zu deutende Weise. Zwei- oder dreimal hob sie den Blick und sah ihre Tochter an, als gäbe es da etwas, das mit diesem Schwert zusammenhing und auch sie betraf, dann aber hängte sie es doch zurück und ließ sich mit einem schweren Seufzer in den brüchigen Korbstuhl fallen, in dem Sarn zuvor geschnarcht hatte.

Nun, nachdem sie die Biberfelle vorgehängt hatte, war es fast vollkommen dunkel hier drinnen, doch Arri spürte das Gefühl tiefer Trauer, das ihre Mutter überkam. Dies war eine für Arri vollkommen unerwartete Reaktion auf den Besuch der beiden Männer. Sie hatte mit Zorn gerechnet, Wut, Ärger, vielleicht sogar Sorge - aber nicht damit. Außer dem, was sie gerade gehört hatte, war noch viel mehr zwischen ihrer Mutter und dem Schamanen. Umso schwerer fiel es ihr, ihrer Mutter die Geschehnisse im Wald zu beichten. Aber sie musste es tun. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie nie wieder die Kraft dafür aufbringen.

»Ich... ich muss dir etwas sagen«, begann sie.

»Ich weiß.« Der Schatten in der fast vollkommenen Dunkelheit vor ihr, der ihre Mutter war, bewegte sich unruhig, und Arri konnte das Knarren des sorgfältig geflochtenen Stuhles hören, in dem sie hin und her rückte, als hätte Sarn ihn mit seiner Anwesenheit irgendwie verändert oder beschmutzt, sodass sie nun nicht mehr sicher war, bequem darauf sitzen zu können.

»Du weißt?«, murmelte Arri erschrocken. Aber wie? Wie konnte ihre Mutter um ihr Geheimnis wissen, und selbst wenn sie bereits davon erfahren hatte, warum hatte sie bisher geschwiegen?

Ein leises, aber fast traurig klingendes Lachen drang als Antwort aus den Schatten zu ihr. »Arianrhod, du bist meine Tochter. Irgendwann wirst du es verstehen, aber für heute glaub mir einfach, dass Kinder sehr selten Geheimnisse vor ihren Eltern bewahren können. Ich weiß, dass du hier nicht wegwillst, weder wenn der erste Schnee fällt noch im nächsten Frühjahr. Ich habe es in deinem Gesicht gewesen, als ich dir von Nors Forderung erzählt habe. Und ich kann dich verstehen, glaub mir.«

»Aber...«, begann Arri, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen, die im gleichen, ebenso sanften wie verständnisvollen, aber auch fast unnahbaren Ton fortfuhr, als hätte sie ihre Entgegnung gar nicht gehört.

»Glaub mir, auch ich will nicht wirklich fort von hier. So sehr uns dieser Ort und seine Menschen auch einengen mögen, ist er doch seit zehn Jahren meine Heimat. Ich habe sonst niemanden. Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten, jedenfalls keinen, der nicht schlimmer wäre als dieser hier, gebeutelt von Hungersnöten und einem Elend, wie es zu meiner Ankunft auch hier noch geherrscht hat. Aber wir müssen es. Nor wird nicht nachgeben, und selbst wenn, so wird Sarn es bestimmt nicht tun.« Arri konnte hören, wie sie traurig den Kopf schüttelte. »Ich werde diesen Menschen hier ein letztes Geschenk zum Abschied machen, und dann ziehen wir weiter.«

Arri schwieg. Die Gelegenheit war vorbei. Sie hatte nichts gesagt und würde auch nichts mehr sagen. Jetzt nicht mehr. Das Gefühl der Trauer, das sie gerade auf ihre Mutter übertragen hatte, war in Wahrheit ihr eigenes, und es war auch nicht wirklich Trauer, sondern Mitleid, denn sie spürte den Schmerz ihrer Mutter fast so deutlich, als wäre er ihr eigener. Sie konnte es ihr jetzt nicht sagen und später vielleicht auch nicht mehr.

Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen und das immer lastender werdende Schweigen zu brechen, fragte sie: »Warum war Grahl plötzlich so feindselig dir gegenüber? Noch vor wenigen Tagen...«

»... war er auf meiner Seite und hätte selbst Sarn die Stirn geboten«, unterbrach sie ihre Mutter, »ich weiß.« Sie lachte ganz leise, doch jetzt klang es einfach nur bitter. »Aber nicht, weil er der Meinung war, ich sei im Recht.«

»Warum dann?«, fragte Arri.

»Vielleicht war er einfach verzweifelt«, antwortete ihre Mutter. »Vielleicht hat Sarn ihm auch aufgetragen, sich so zu geben, um sich auf diese Weise in mein Vertrauen zu schleichen.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht hat er geglaubt, auf diese Weise etwas von mir bekommen zu können, was ich ihm nur dann und wann einmal geschenkt habe, wenn mir danach war.«

»Du meinst...?«

»Ich war noch nie das Eigentum eines Mannes, und ich werde es niemals sein«, sagte ihre Mutter ruhig. »Was Grahl für ein Geschenk gehalten haben mag, das war in Wahrheit etwas, das ich mir von ihm genommen habe. Vielleicht hat er das begriffen und ist nun zornig.«

Arri war sich nicht ganz sicher, ob sie diesem wirren Gedankengang folgen konnte, und sie wollte es auch nicht, jedenfalls nicht jetzt. »Aber was hat er gemeint, als er sagte, du hättest seinem Bruder...«, sie versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, war aber nicht ganz sicher, ob es ihr gelang, »... Unsinn in den Kopf gesetzt?«

»Warum wartest du nicht einfach ab, bis Rahn zurück ist?«, erwiderte ihre Mutter. »Dann wirst du schon sehen, was ich gemeint habe.« Sie seufzte ganz leise und sehr tief. »Wer weiß? Vielleicht haben sie ja Recht.«

10

»Wer hätte so etwas schon einmal gehört? Ein blinder Mann und ein einarmiger! Warum soll nicht gleich ein Stummer unsere Lieder singen?«

Aus Sarns Stimme troff der Hohn wie zäher Honig aus einem aufgebrochenen Bienenkorb, und aus den Reihen der Zuschauer, die nicht nur hinter und neben ihm Aufstellung genommen hatten, sondern einen mehrfach gestaffelten, nahezu undurchdringlichen Drei-viertel-Kreis um die heruntergekommene Hütte am Rand des Dorfes bildeten, erhob sich ein zustimmendes Gemurmel. Zwei oder drei Männer lachten, aber Arri gewahrte auch das eine oder andere finstere Gesicht, das mit unverhohlenem Zorn in ihre Richtung blickte. Nahezu das ganze Dorf war zusammengekommen, und auch, wenn es bisher niemand gewagt hatte, es laut auszusprechen, so war Arri doch klar, dass vermutlich die Hälfte von ihnen darauf wartete, dass das Vorhaben ihrer Mutter scheiterte.

Wenn sie ehrlich war, erging es ihr nicht sehr viel anders.

Natürlich wartete sie nicht darauf, dass ihre Mutter scheiterte, und sie hätte gewiss auch andere Worte gewählt als der Dorfälteste - aber ein bisschen verrückt war das, was Lea ihr erklärt hatte, schon. Ein blinder Verrückter und ein einarmiger Krüppel, die gemeinsam die Arbeit eines Schmieds tun sollten? Das war zumindest... gewagt.

Als hätte sie ihre Gedanken erraten - was im Augenblick wahrscheinlich nicht einmal besonders schwer war -, drehte Lea den Kopf und warf ihr einen raschen, aufmunternden Blick zu, bevor sie sich wieder auf das Geschehen in der Hütte konzentrierte. Um die Sache zu vereinfachen, hatte Rahn auf Sarns Geheiß hin kurzerhand die vordere Wand der Schmiede abgerissen, was bei dem bejammernswerten Zustand des ohnehin baufälligen Gebäudes keinen großen Unterschied mehr machte, sodass zumindest sie und die Zuschauer in der vordersten Reihe freie Sicht auf das hatten, was sich im Innern des Hauses abspielte.

Arri bezweifelte, dass ihrer Mutter das recht war, und auch Kron hatte die eine oder andere entsprechende Bemerkung gemacht, doch der Schamane war in diesem Punkt unnachgiebig geblieben und hatte eingewendet, dass die Gefahr eines Brandes bestünde, wenn sich ein Blinder und ein Krüppel von Krons Größe die enge Hütte teilten und noch dazu mit Feuer hantierten. Damit hatte er vermutlich sogar Recht, aber Arri war natürlich auch klar, warum er wirklich darauf bestanden hatte: aus demselben Grund, aus dem er praktisch das ganze Dorf zusammengerufen hatte, um bei Achks und Krons erster gemeinsamer Arbeit zuzusehen. Er wollte, dass möglichst viele miterlebten, wie ihre Mutter scheiterte.