Sie straffte die Schultern, wie um ihren Weg fortzusetzen, machte aber nur einen einzigen Schritt und blieb dann abermals stehen. Sie hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb unverändert, und auch ihre rechte Hand machte jetzt nicht mehr diese verräterische Bewegung, aber Arri sah trotzdem, dass der Anteil von Sorge in ihrem Blick eher noch größer geworden war. Plötzlich musste sie wieder an den Fremden denken, den sie getroffen hatte (und zwar, ob das nun Zufall war oder nicht, nahezu genau an dieser Stelle), und mit einem Mal hatte auch sie das Gefühl, dass sie nicht mehr allein waren. Jemand beobachtete sie.
Aber das konnte nicht sein, versuchte sie sich selbst in Gedanken zu beruhigen. Ganz egal, wie geschickt dieser mögliche Beobachter auch im Anschleichen und Heranpirschen sein mochte, Arri wusste, dass den scharfen Sinnen ihrer Mutter nicht der geringste verräterische Laut entgangen wäre.
»So geht das nicht weiter«, seufzte ihre Mutter.
»Was?«, fragte Arri, obwohl sie sicher war, dass die Worte nicht ihr gegolten hatten.
Ihre Mutter antwortete denn auch nicht, sondern warf ihr nur einen seltsamen Blick zu und ging dann weiter, blieb aber nach wenigen Schritten schon wieder stehen und hob den Kopf, diesmal aber nicht, um sich erschrocken umzusehen. Für eine geraume Weile blickte sie konzentriert in den Himmel hinauf, der durch eine Lücke im Blätterdach über ihren Köpfen an dieser Stelle besonders deutlich zu sehen war. Die Nacht war vollkommen wolkenlos, und da der Mond zu einer kaum noch kleinfingerbreiten, blassen Sichel zusammengeschmolzen war, schienen die Sterne doppelt hell und klar über ihnen am Firmament zu funkeln; wie unzählige winzige Augen, die aufmerksam auf sie herabblickten.
Eine geraume Weile stand sie einfach so da und sah zu den Sternen hinauf, und zumindest am Anfang tat Arri es ihr gleich. Ihre Mutter hatte sie auch einiges über die Sterne gelehrt. Sie hatte ihr erzählt, dass manche von ihnen Namen hatten und dass sie den Seefahrern ihres Volkes dabei geholfen hatten, ihren Weg durch die unendlichen Einöden des Meeres zu finden, und vor allem auch immer wieder unbeschadet nach Hause zu kommen. Arri hatte sich ehrliche Mühe gegeben, diesem Gedanken zu folgen, aber es war ihr nicht wirklich gelungen. Für sie waren diese winzigen funkelnden Lichter eben nichts mehr als funkelnde Lichter, und wenn sie darüber hinaus eine weitere, geheimnisvolle Bedeutung hatten, so hatte sie sich ihr zumindest bis jetzt noch nicht erschlossen.
»Komm her.« Lea forderte sie mit einer Handbewegung auf, an ihre Seite zu treten. Gleichzeitig hob sie den rechten Arm und deutete steil in den Himmel hinauf. Arris Blick folgte der Geste, aber sie erkannte dort nichts weiter als wahllos verstreute, glitzernde Punkte; wie Eiskristalle auf schwarzem Stein, oder auch die Augen teilnahmsloser Götter, die seit Anbeginn der Zeit auf die Erde herabblickten.
»Siehst du diese Sterne?«, fragte Lea.
Arri nickte, aber auf ihrem Gesicht musste sich wohl ein Ausdruck ziemlicher Verständnislosigkeit ausbreiten, denn ihre Mutter lachte plötzlich. Dann legte sie Arri den Arm um die Schultern, zog sie dicht an sich heran und deutete abermals mit der freien Hand nach oben. »Diese dort«, sagte sie. Arri versuchte es ehrlich, aber für sie blieben es bedeutungslose kalte Punkte. »Dort oben«, fuhr Lea fort. »Siehst du, genau dort, wo mein Finger hindeutet. Diese kleine Gruppe. Sie bilden fast einen Kreis, mit einem einzelnen, besonders hellen Stern in der Mitte.«
Arri tat ihr Möglichstes, und schließlich glaubte sie zumindest, diese ganz spezielle Konstellation zu sehen, auf die ihre Mutter sie aufmerksam zu machen versuchte. Aus irgendeinem Grund schien sie für sie von besonderer Bedeutung zu sein. Arri nickte.
Der Blick ihrer Mutter bekam etwas Zweifelndes, als frage sie sich, ob Arri vielleicht einfach nur mitspielte, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber dann wiederholte sie ihr Nicken und fuhr fort: »Ganz egal, was auch passiert, merk dir diese Sterne. Wenn du sie wieder findest, dann hast du immer einen Anhaltspunkt für deine Orientierung, wo auch immer auf der Welt du dich gerade aufhältst.«
Sie nahm den Arm von Arris Schulter, griff mit der anderen Hand unter ihren Umhang und zog das Schwert hervor. »Hier. Schau.«
Vorsichtig, um sich nicht an der scharfen Klinge zu schneiden, ergriff sie das Schwert mit beiden Händen und hielt es so ins Licht, dass der silbrige Schein, der durch die Lücke im Blätterdach fiel, den Griff und vor allem den reich verzierten Knauf an seinem Ende beleuchtete. »Siehst du es?«
Arri sah im allerersten Moment nichts anderes als das, was sie schon unzählige Male zuvor gesehen hatte - solange sie sich zurückerinnern konnte, hing dieses Schwert an der Wand in ihrer Hütte, und sie hatte es schon so oft gesehen, dass sie bereits seit Jahren eigentlich nicht mehr wirklich hinschaute. Früher hatte sie sich manchmal den Kopf über die Bedeutung des komplizierten Musters in dem verzierten Knauf zerbrochen, es aber irgendwann einmal aufgegeben; vermutlich besagte die Anordnung aus unterschiedlich großen Kreisen und Sicheln, die in blitzendem Gold in den dunkelgrünen Stein des Knaufs eingelassen war, überhaupt nichts, sondern diente nur der Zierde. Jedenfalls hatte sie das bisher geglaubt. Nun aber - wenn auch erst, nachdem ihre Mutter abermals mit dem Finger in den Himmel und dann auf den wuchtigen Schwertknauf gedeutet hatte - fiel ihr plötzlich etwas auf. Sie sah in den Himmel empor, runzelte konzentriert die Stirn, blickte dann wieder auf den Schwertknauf, sah noch einmal in den Himmel und schließlich wieder auf den grünen, mit goldenen Kreisen bedeckten Stein.
»Das... das sind dieselben Sterne«, murmelte sie überrascht. Ihre Mutter nickte und sah sehr zufrieden aus, doch Arri fuhr nach einem weiteren, aufmerksamen Blick in den Himmel hinauf fort: »Aber es sind zu viele.«
»Nein«, erklärte ihre Mutter kopfschüttelnd. »Es sind sieben. Siehst du?« Ihr deutender Finger folgte ihren Worten. »Diese sechs hier bilden einen fast regelmäßigen Kreis, und der siebte, größte, ist genau in der Mitte. Es sind die Plejaden. Merke dir diesen Namen, auch wenn du vielleicht irgendwann einmal der einzige Mensch auf der Welt sein wirst, der ihn noch kennt.«
Das galt vielleicht für die winzigen, goldenen Abbilder der ruhig funkelnden Götteraugen dort oben am Himmel, aber nicht für die Sterne selbst. Arri sah noch einmal und jetzt mit höchster Konzentration hin, aber es blieb dabei. »Es sind nur fünf«, beharrte sie.
»Fünf, die man sofort sehen kann«, erwiderte Lea mit einem matten Lächeln und einem irgendwie sanft wirkenden Kopfschütteln. »Aber es sind sieben, glaub mir. Dort oben ist der Sitz der Götter, und von dort aus sehen sie uns zu und wachen über unser Schicksal.«
Arris Verunsicherung stieg noch weiter. Ihre Mutter sprach sehr selten über die Götter, und wenn, dann tat sie es zumindest mit bitterer Stimme, in der immer ein leiser, aus einem niemals ganz überwundenen Zorn geborener Vorwurf mitschwang, wenn sie nicht gleich ganz offen mit ihnen haderte; und doch spürte sie, dass die Worte in diesem Moment nicht einfach nur so dahingesagt waren. Viel mehr war da plötzlich etwas in ihrer Stimme - und auch auf ihrem Gesicht -, was Arri ein kurzes Frösteln über den Rücken laufen ließ. Sie hätte nicht geglaubt, dass ihre Mutter überhaupt zu einer solchen Empfindung fähig wäre, und doch spürte sie die Ehrfurcht, die sie plötzlich ergriffen hatte, aber auch etwas wie eine stille, resignierende Trauer; als spräche sie über etwas unglaublich Kostbares, das sie verloren hatte und von dem sie wusste, dass sie es nie wieder zurückerlangen konnte.
»Die Götter?«, wiederholte sie. »Aber ich dachte, du glaubst nicht an sie?«