Sie aßen schweigend. Der Fisch war köstlich, und auch die Beilage aus Möhren, Ackerbohnen und Hundspetersilie, die ihre Mutter bereitet hatte, schien heute deutlich besser zu schmecken als sonst; zudem kam Arri ihre Portion spürbar größer vor als gewöhnlich. Neben etlichem anderen, was ihr Leben von dem der Dorfbewohner unterschied, achtete ihre Mutter streng darauf, dass sie nicht zu viel aß - was nur zu oft darauf hinauslief, dass sie nicht wirklich satt wurde. Heute aber schien es ihr gleich zu sein, und so langte Arri nicht nur kräftig zu, weil es ihr außergewöhnlich gut schmeckte und sie tatsächlich sehr hungrig war, sondern sie aß auch noch eine ganze Weile weiter, wie um ihrer Mutter im Nachhinein zu beweisen, dass sie recht daran getan hatte, die größte Äsche von Rahn zu verlangen. Dennoch blieb mehr als die Hälfte des Fisches übrig, selbst als Arri so viel gegessen hatte, dass sie befürchtete, platzen zu müssen, wenn sie auch nur noch einen einzigen Bissen hinunterschluckte.
Als sie schließlich lustlos an einem Stück Fladenbrot herumknabberte, von dem sie sich viel zu viel auf den Teller gehäuft hatte, nahm ihre Mutter das übrig gebliebene Stück Fisch, wickelte es sorgfältig in ein großes Blatt und verschwand mit den beiden hölzernen Tellern und der schweren Bronzepfanne nach draußen, um es in dem hölzernen Trog, den sie einzig zu diesem Zweck neben der Sommerkochstelle am Ende der Hütte aufgestellt hatte, sorgfältig abzuwaschen. Obwohl sie dies jeden Abend tat, kam Arri doch heute ganz besonders zu Bewusstsein, wie seltsam dieses Verhalten war. Niemand hier im Dorf aß von Tellern. Ihre Mutter hatte die beiden dünnen, leicht gewölbten Holzteller in mühevoller Arbeit aus einer Baumscheibe herausgeschnitzt, bearbeitet und poliert, und obwohl Arri, die es nicht anders kannte, wie selbstverständlich davon aß, hatte sie sich doch schon mehr als einmal gefragt, was eigentlich der Sinn dieses umständlichen Benehmens war.
Es erschien ihr ebenso rätselhaft wie das Beharren ihrer Mutter darauf, sich vor dem Essen und auch morgens nach dem Aufwachen mit kaltem Wasser das Gesicht und die Hände zu waschen - und wie so viele andere Dinge, die sie tat und zu denen es im Dorf nichts Vergleichbares gab. All das musste etwas mit ihrem früheren Leben zu tun haben. Bestimmt nicht heute - nicht nach all dem, was geschehen war -, aber doch bald, das nahm sich Arri vor, würde sie ihre Mutter wieder nach dem Land fragen, aus dem sie gekommen war, und dem Leben, das die Menschen dort geführt hatten. Und diesmal, das nahm sie sich fest vor, würde sie sich nicht mit ein paar Ausflüchten und Gemeinplätzen abspeisen lassen!
Nach einer Weile kam ihre Mutter zurück, stellte die Pfanne und die beiden Teller an ihren Platz und bedeutete Arri mit einer wortlosen Geste, dass es Zeit war, sich zum Schlafen niederzulegen. Damit hatte sie Recht. Draußen war es längst dunkel geworden, die Nachtkälte kroch ins Haus, und unter dem dicken Bärenfell, das auf ihrer dünnen Grasmatratze lag, würde es wenigstens warm sein, auch von unten; schließlich war der über der klammen Erde schwebende Holzboden zusätzlich mit einer fest gestampften Lehm- und Rindenschicht gegen die Feuchtigkeit abgeschirmt. Arri war auch tatsächlich müde, denn sie hatte an diesem Tag zwar nicht schwer arbeiten müssen, aber all die Aufregung hatte sie doch angestrengt.
Zugleich war sie enttäuscht; sie hätte gern noch mit ihrer Mutter geredet, ihr Fragen gestellt und sich vor allem für ihr ungehöriges Benehmen entschuldigt, denn obwohl ihre Mutter ihr keine weiteren Vorwürfe gemacht hatte, spürte sie doch den tiefen Kummer, der sie plagte. Sie war nicht sicher, ob sie selbst der alleinige Grund dafür war, aber sie hatte zumindest das ihre dazu beigetragen. Also zog sie sich gehorsam auf ihr Lager zurück und kroch unter das warme Fell, doch als ihre Mutter sich ebenfalls auf ihrer Grasmatratze ausstreckte und die viel dünnere, aus mehreren kleinen Fellen zusammengenähte Decke über sich zog, sagte sie: »Es tut mir wirklich Leid.«
Sie bekam nicht sofort eine Antwort. Tatsächlich schwieg ihre Mutter lange genug, dass Arri schon glaubte, sie werde gar nichts mehr sagen, dann aber hörte sie, wie sie sich wieder aufrichtete und halb zu ihr umdrehte. »Was tut dir Leid?«
Auch Arri setzte sich nun auf, wobei sie allerdings sorgsam darauf achtete, dass das Bärenfell nicht von ihren Schultern glitt. Es war erstaunlich, wie schnell es nach Einbruch der Dunkelheit kalt in der Hütte geworden war. Das Gesicht ihrer Mutter war nur als etwas hellerer Fleck in dem trüben Zwielicht zu erkennen, das die Hütte erfüllte. Es war nahezu Neumond, und selbst durch die beiden offenen Gucklöcher, die allzu bald mit Biberfellen verhangen und dann mit einer dicken Schicht aus Stroh, Bast und Lehm für den Winter abgedichtet werden würden, drang keine nennenswerte Helligkeit herein.
Arri fand keine Ruhe, unzählige verrückte Erinnerungsfetzen und Fragen schossen ihr durch den Kopf. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte: »Was wollte Nor jetzt eigentlich von dir?« Als ihre Mutter nicht gleich antwortete, stützte sie sich auf dem Ellbogen auf, sah zu ihr hinüber und fügte noch hinzu: »Er klang so ungehalten wie noch nie. Dabei müsste er dir doch eigentlich zu Dank verpflichtet sein - nach allem, was du für das Dorf getan hast und damit letztlich auch für Goseg.«
»Menschen sind undankbar«, erwiderte ihre Mutter leise. »Manche mehr und manche weniger, aber tief in sich sind sie es alle. Man nimmt Hilfe gern an, wenn man sie nötig hat, aber sobald man sie nicht mehr braucht, ist sie schnell wieder vergessen. So ist das nun einmal.«
»Überall?«, fragte Arri. Sie zögerte einen winzigen Augenblick, raffte dann all ihren Mut zusammen und fügte hinzu: »Auch dort, wo du herkommst?«
Diesmal verging deutlich mehr Zeit, bevor ihre Mutter antwortete. Ihre Stimme hatte sich verändert, aber Arri hätte nicht sagen können, wie. »Ich glaube schon. Vielleicht nicht ganz so wie hier, aber das ist nur natürlich.«
»Wieso?«
»Weil Dankbarkeit etwas ist, das man sich leisten können muss«, antwortete ihre Mutter, und das verstand Arri noch viel weniger als alles andere. Aber sie spürte auch, dass es keinen Sinn hätte, jetzt weiterzubohren. Mit ihrer Frage hatte sie gegen ein unausgesprochenes Tabu verstoßen, das zwischen ihnen galt, so lange sie sich erinnern konnte, und das besagte, dass sie niemals über die Vergangenheit ihrer Mutter sprachen. Schon, dass sie die Frage überhaupt beantwortet hatte, war außergewöhnlich.
Ihre Mutter ließ sich wieder zurücksinken, und Arri konnte im trüben Zwielicht sehen, wie sie unter der dünnen Decke die Knie an den Leib zog, damit ihr nicht zu viel von ihrer kostbaren Körperwärme verloren ging. Im Winter, wenn es wirklich kalt wurde, schliefen sie für gewöhnlich gemeinsam auf einer einzigen Matratze aus getrocknetem und sorgfältig geflochtenem Gras und teilten sich das warme Bärenfell ebenso, wie sie sich gegenseitig wärmten, doch solange es die Temperaturen zuließen, bestand ihre Mutter darauf, dass jeder auf seinem eigenen Lager blieb. Dabei wusste Arri, wie kalt es selbst jetzt schon unter der dünnen Decke ihrer Mutter werden konnte. Sie besaßen nur dieses eine Fell. Ein Bärenfell war etwas unvorstellbar Kostbares. Nicht einmal Sarn, der Dorfälteste und Schamane, besaß eines. Die einzigen anderen Menschen, die Arri kannte und die Bärenfelle als Kleidung oder Decken besaßen, waren Nor und die Krieger seines Heiligtums, und selbst die nicht alle; der Mann, der ihn heute begleitet hatte, hatte jedenfalls keines getragen.