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»Vielleicht glauben sie ja noch an mich«, erwiderte Lea traurig. »Und vielleicht will ich nur nicht mehr an sie glauben.«

»Weil sie dir so viel genommen haben?«

»Ich habe es versucht«, antwortete Lea, ohne damit wirklich auf ihre Frage zu antworten. Ihr Blick war wieder nach oben gerichtet, doch Arri hatte das Gefühl, dass ihre Mutter dort etwas vollkommen anderes sah als sie. »Es ist mir nicht gelungen. Vielleicht bin ich zu schwach. Vielleicht sind die Menschen auch dazu verdammt, an etwas wie die Götter zu glauben. Vielleicht ist auch einfach nur die Vorstellung unerträglich, dass es sie nicht gibt.«

»Warum?«, fragte Arri verstört. »Wieso willst du an etwas glauben, das du doch eigentlich hasst?«

»Weil es leichter ist, etwas zu haben, dem man die Schuld geben kann«, antwortete Lea fast im Flüsterton. Bildete es sich Arri nur ein, oder schimmerten plötzlich Tränen in ihren Augen? »Wenn da oben nichts ist, Arianrhod, wozu sind wir dann hier? Wenn das alles hier keinem höheren Ziel dient, wozu gibt es uns dann?«

Es war keine Frage, auf die ihre Mutter wirklich eine Antwort erwartet hätte, das spürte sie, und doch zerbrach Arri sich für einen Moment den Kopf darüber, was sie darauf sagen könnte. Ihre Mutter kam ihr zuvor, indem sie den Blick mit einem Ruck von den kalt blitzenden Diamantsplittern oben am Nachthimmel losriss und sich zu einem Lächeln zwang.

»Du hast mich gefragt«, fuhr sie nach einer spürbaren Pause und in verändertem, aber gefasstem Ton fort, »warum dieses Schwert so wertvoll für mich ist.«

»Weil es das Einzige ist, was du aus deiner Heimat mitgebracht hast«, antwortete Arri, »und weil es eine mächtige Waffe ist, der nichts widersteht.«

Ihre Mutter lächelte, als hätte sie etwas sehr Dummes gesagt, was sie aber nicht besser wissen konnte. Sie nickte zwar, sagte dann aber: »Nein. Jede Waffe ist immer nur so mächtig wie derjenige, der sie führt. Du hast Recht - dieses Schwert ist das Einzige, was ich mitbringen konnte, aber es ist nicht nur ein bloßes Erinnerungsstück, und es ist sehr viel mehr als nur eine Waffe.«

Sie drehte das Schwert behutsam auf der Handfläche herum, sodass Arri nun die Rückseite des Knaufes sehen konnte. Sie unterschied sich von der vorderen. Auch sie bestand aus dunkelgrünem Stein, der mit goldenen Einlegearbeiten verziert war, kleine Punkte, Striche und Halbkreise, die sich jedoch in einer vollkommen anderen Anordnung darboten als auf der vorderen Seite. »Dieses Schwert wird eines Tages dir gehören, Arianrhod. Es ist dein Erbe; vielleicht das Kostbarste, was jemals einem Menschen hinterlassen worden ist. Es ist nicht die Schärfe seiner Klinge, die es so wertvoll macht, auch wenn sie alles zerschmettern kann, was die Menschen in diesem Land dagegen aufbieten könnten. Aber dies hier ist sein wahres Geheimnis.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Arri.

Lea nickte verständnisvoll. »Und wie auch? Das ist ja gerade das Geheimnis dieser Waffe, dass sie denen, die sie in Händen halten, die Macht über das Wohl und Wehe so vieler Menschen verleiht, und dass sie es auf so völlig andere Weise tut, als jeder ahnt, der ihr Geheimnis nicht ganz genau kennt.«

Arri wartete darauf, dass sie von sich aus weitersprach, aber das tat ihre Mutter nicht. Sie sah sie nur an, als wäre dies allein schon das große Geheimnis gewesen, das sie ihr offenbaren wollte, und als verstünde sie gar nicht, warum Arri sie so verwirrt und verständnislos anblickte.

Eine ganze Weile verging, ohne dass einer von ihnen etwas sagte, und schließlich räusperte sich Arri unbehaglich, und ihre Mutter schlug den Umhang zurück und setzte dazu an, das Schwert wieder in die mit einer Bronzeeinfassung verstärkte Lederschlaufe zurückzuschieben, die sie in den Gürtel geknüpft hatte, der ihr Kleid um die Taille herum zusammenhielt. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern hob plötzlich und mit einem neuerlichen, erschrockenen Ruck den Kopf und schien zu lauschen. Und diesmal war Arri sicher, sich den Ausdruck von Schrecken auf ihren Zügen nicht nur einzubilden. »Was ist los?«, flüsterte sie alarmiert.

Lea bedeutete ihr auch jetzt mit einem hastigen Wink, still zu sein, drehte sich aber gleichzeitig mit einem Ruck um und lief mit raschen Schritten und alles andere als leise los. Arri folgte ihr mit klopfendem Herzen, doch obwohl sie jegliche Vorsicht aufgab und ohne Rücksicht auf den Lärm, den sie dabei machte, so schnell ausschritt, wie sie es nur konnte, fiel sie rasch hinter ihrer Mutter zurück und hätte womöglich ganz den Anschluss verloren, wäre Lea nicht nach zwei oder drei Dutzend Schritten ebenso abrupt wieder stehen geblieben, wie sie losgelaufen war. Keuchend gelangte Arri bei ihr an und wollte eine entsprechende Frage stellen, doch ihre Mutter machte erneut eine befehlende Geste, sah sich aufmerksam nach rechts und links um und deutete dann mit dem Schwert nach vorne, in die Richtung, in der das Dorf liegen musste.

Arris Blick folgte der Bewegung, und sie fuhr zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit so erschrocken zusammen, dass sie gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Vor ihnen schimmerte es rot durch das Unterholz.

»Feuer«, flüsterte Lea. »Es brennt.«

Aber was sollte dort brennen?, fragte sich Arri. In dieser Richtung lag nur das Dorf und... ihre Hütte!

Als wäre diese Erkenntnis ihnen beiden im gleichen Moment gekommen, rannten Arri und ihre Mutter auch schon los.

Lea nahm jetzt überhaupt keine Rücksicht mehr darauf, ob Arri mit ihr Schritt halten konnte oder nicht, sondern brach durch das Unterholz, und wo sie nicht schnell genug von der Stelle kam, hackte sie sich ihren Weg mit dem Schwert frei. Arri hörte das Geräusch reißenden Stoffes, als ihr Umhang an den dornigen Zweigen des Gestrüpps hängen blieb, aber auch darauf nahm sie keine Rücksicht, sondern schien ganz im Gegenteil nur noch schneller vorwärts zu hasten. Obwohl sie mit ihrem eigenen Körper und der scharfen Klinge einen Weg für sie bahnte, fiel Arri abermals zurück und verlor sie schon nach wenigen Dutzend Schritten aus den Augen.

Dennoch bestand nicht die Gefahr, gänzlich den Anschluss zu verlieren, denn das düsterrote Flackern vor ihnen nahm jetzt immer rascher an Intensität zu, sodass sich der huschende Schatten, in den sich ihre Mutter verwandelt hatte, immer deutlicher davor abzeichnete. Was immer dort vorne brannte, es musste ein gewaltiges Feuer sein, und obwohl Arri wusste, dass es nicht möglich war, glaubte sie bereits einen Schwall trockener Hitze zu spüren, der ihr entgegenschlug, und den Geruch brennenden Holzes wahrzunehmen, der die Luft schwängerte. Ihr Zuhause! Es durfte nicht ihre Hütte sein! Diese Hütte und das Wenige, was darin war, waren alles, was sie besaßen, alles, was ihr Leben ausmachte.

Sie hörte einen dumpfen Laut und dann die Stimme ihrer Mutter, die einen Fluch in einer Arri vollkommen unbekannten Sprache ausstieß, dann hob das Geräusch ihrer Schritte wieder an, ertönte jetzt aber langsamer und auch nicht mehr ganz so regelmäßig.

Tatsächlich war sie langsamer geworden. Als Arri, von einer neuen Sorge um ihre Mutter ergriffen, schneller ausschritt, holte sie tatsächlich wieder auf, und kurz bevor sie den Waldrand erreichten, hatte sie nahezu zu ihr aufgeschlossen. Noch immer war ihre Mutter kaum mehr als ein verwaschener Schatten, den sie nur sah, weil er sich dunkel gegen den flackernden Lichtschein abhob, doch sie konnte erkennen - dass sie deutlich humpelte.

»Mutter!«, keuchte sie. »Was ist passiert?«

Möglicherweise wollte Lea sogar antworten, denn sie stockte fast unmerklich im Schritt und setzte dazu an, den Kopf in Arris Richtung zu drehen, doch in diesem Augenblick hatte sie den Waldrand erreicht, und sie blieb abrupt stehen und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

Sie waren kaum einen Steinwurf von ihrer Hütte entfernt aus dem Wald herausgetreten, und Arri erkannte nicht einmal einen Atemzug nach ihrer Mutter, dass die schilfgedeckte, auf doppelt armdicken Stelzen stehende Hütte unversehrt war. Der Feuerschein war jetzt viel deutlicher zu sehen, und für einen Augenblick ließ die Helligkeit die Umrisse des Hauses mit scharf abgegrenzten Linien vor dem flackernden roten Hintergrund erscheinen. Es war nicht ihr Heim, das brannte, dachte Arri erleichtert. Das Feuer - es war ein gewaltiges, scheinbar himmelhoch loderndes Feuer - brannte irgendwo dahinter, und ein Stück höher.