Es war das Dorf, das brannte.
Arris Erleichterung, ihr Heim unversehrt vorzufinden, hielt kaum einen Augenblick länger an als das ganz ähnliche Gefühl, das ihre Mutter gehabt haben musste. Lea stieß einen zweiten, diesmal erschrockenen Seufzer aus und stürzte weiter, und Arri zögerte nur einen Herzschlag lang, bevor sie ihr folgte. Nicht mehr von den Bäumen und dem Unterholz des Waldes abgeschirmt, war der Feuerschein jetzt so grell, dass er in den Augen schmerzte, und sie spürte die Hitze tatsächlich. Auch der durchdringende Gestank von brennendem Holz war nicht mehr eingebildet, und darunter war noch ein anderer, schlimmerer Geruch, den sie in ihrer Aufregung nicht sofort einzuordnen vermochte, der ihrer Furcht aber neue Nahrung gab.
Arri rannte, doch sie verlor den Anschluss, noch bevor sie die halbe Strecke zur Schmiede hinauf zurückgelegt hatte, und ihre Angst um ihre Mutter bekam einen neuen, hässlicheren Unterton. Ganz egal, wie abfällig und bitter sich ihre Mutter manchmal über die Menschen im Dorf äußern mochte - Arri kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Augenblick zögern würde, ihr eigenes Leben für einen von ihnen aufs Spiel zu setzen. Und so, wie es vor ihnen aussah, musste das ganze Dorf in Flammen stehen.
Arri versuchte fast verzweifelt, noch schneller zu laufen. Auf halbem Wege ließ sie ihren Umhang fallen, und als sie das letzte, steil ansteigende Stück in Angriff nahm, schleuderte sie auch die Sandalen von den Füßen. Dennoch schienen sich die Umrisse ihrer Mutter in dem lodernden Rot einfach aufgelöst zu haben, lange, bevor sie die Stelle erreichte, an der die Hütte des blinden Mannes stand.
Um genau zu sein, erreichte sie sie gar nicht, denn schon, als sie noch ein Dutzend Schritte davon entfernt war, wurden die Hitze und das grelle, jetzt nicht mehr rote, sondern fast weiße Licht so unerträglich, dass sie schützend den Arm vor das Gesicht riss und stehen bleiben musste. Aufgeregte Stimmen und Schreie drangen an ihr Ohr, das Trappeln zahlloser schwerer Schritte, Rufe und Gebrüll. Sie glaubte Schatten im tanzenden Weiß vor sich zu erkennen, dann drehte der Wind und fegte ihr eine so gnadenlose Hitze ins Gesicht, dass sie zwei oder drei Schritte zurückstolperte und qualvoll hustete. Das gleißende Licht trieb ihr die Tränen in die Augen. Halb blind und noch immer den rechten Arm schützend vor das Gesicht gehoben, drang sie in das dichte Unterholz am Wegesrand ein, stolperte prompt über eine Wurzel und wäre um ein Haar gefallen, hätte sie sich nicht im letzten Augenblick mit ausgestreckten Händen an einem Baum abgestützt.
Doch sie zog die Arme mit einem Schmerzensschrei wieder zurück. Der Baum war so heiß, dass seine Rinde zu glühen schien. Hitze und Licht waren so gewaltig, dass sie ständig gegen einen heftigen Hustenreiz ankämpfen musste und nur verschwommene Schatten und Bereiche unerträglicher Helligkeit wahrnahm. Immerhin sah sie, dass sich das Feuer auf einen kleinen Bereich links von ihr konzentrierte. Auch der Hintergrund dort glühte rot, aber nicht mehr so unerträglich, als wäre der Sonnenwagen hinabgestürzt.
Arri taumelte hustend auf diesen Bereich zu, und die Stimmen und der Lärm wurden lauter. Sie glaubte in all dem Durcheinander die Stimme Rahns herauszuhören, aber wo war ihre Mutter? Mittlerweile war der Brandgeruch so unerträglich geworden, dass sie schon allein deshalb kaum noch atmen konnte. Hustend und qualvoll nach Luft ringend, taumelte sie auf den Weg zurück - und riss mit einem erschrockenen Keuchen die Hände vors Gesicht, als sie von einem eiskalten Wasserschwall getroffen wurde.
Nach der grausamen Hitze war das Wasser so kalt, dass es wie ein Schlag ins Gesicht war. Schatten tanzten in ihren Augenwinkeln, und sie hörte eine aufgebrachte Stimme schreien: »Aus dem Weg, du dummes Gör! Verschwinde!«
Mühsam wischte sich Arri das Wasser aus den Augen, musste aber dennoch mehrmals blinzeln, um überhaupt etwas sehen zu können. Der Wasserschwall, der sie getroffen hatte, war nicht der Einzige. Vor ihr ragte die riesige Gestalt eines Mannes auf, der abwechselnd sie und den leeren Tonkrug in seinen Händen wütend musterte, bevor er sich umdrehte und davonstürmte. Hinter ihm eilten andere herbei, Kessel, Krüge und sogar Schalen mit Wasser schleppend, mit denen sie sich so dicht an den Brandherd herankämpften, wie es die grausame Hitze zuließ, bevor sie die Flammen zu löschen versuchten. Das gesamte Dorf schien zusammengelaufen zu sein, und Arri vernahm einen Chor aufgeregter, panischer Stimmen, die aus der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins drangen und alle auf die eine oder andere Weise nach Wasser schrieen. Die Menschen mussten eine Kette gebildet haben, die bis zur Zella hinunterreichte - aber bis dahin, dachte sie, waren es mindestens zweihundert Schritte, viel zu weit, um wirklich eine geschlossene Kette zu bilden, die wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen wäre, schnell genug und in ausreichender Menge Wasser herbeizuschaffen, um das, was von Achks Hütte noch übrig war, zu retten.
»Arianrhod!« In all dem Durcheinander von Stimmen, Lärm und dem Prasseln der Flammen erkannte sie nicht die Stimme ihrer Mutter, wohl aber den scharfen Ton, der darin mitschwang. Noch immer heftig blinzelnd und mit halb verschleiertem Blick, drehte sie sich um und sah ihre Mutter auf sich zustürmen. Obwohl erst wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte, erschrak Arri bei ihrem Anblick. Ihr Umhang war verkohlt, und der Saum qualmte sichtbar. Ihr Gesicht war rußverschmiert und ihr Haar auf der linken Seite angesengt. Auch sie hatte einen Kupferkessel in der Hand, den sie vermutlich kurzerhand jemandem abgenommen hatte. »Was willst du hier?«, herrschte sie sie noch einmal an. »Willst du dich umbringen? Verschwinde!«
Arri konnte sie nur verwirrt anstarren. »Aber ich...«, begann sie, doch ihre Mutter hörte gar nicht mehr zu, sondern fuhr auf dem Absatz herum und verschwand mit ihrem Kupferkessel in der Dunkelheit, allerdings nur, um fast unmittelbar darauf mit einem weiteren, gefüllten Gefäß zurückzukommen. Näher als jeder andere wagte sie sich an das Feuer heran und kippte das Wasser zielsicher in die weiß lodernde Glut. Ein hörbares Zischen erklang, aber das Feuer verlor nicht wirklich an Kraft. So heiß, wie es brannte, dachte Arri schaudernd, musste das Wasser einfach verdampfen, bevor es die Flammen auch nur erreichte. Was immer dort brannte - es war nicht nur Holz.
Immerhin erkannte sie jetzt, dass es keineswegs das ganze Dorf war, das in Flammen stand, wie sie in ihrem allerersten Schrecken angenommen hatte. Es war die abgelegene Hütte des Schmieds, und vielleicht war das auch die Erklärung für die fast schon unnatürliche Kraft, mit der das Feuer wütete. Sie hatte sich nie sonderlich um das gekümmert, was er tat, aber sie wusste natürlich, dass er neben Erz und Holzkohle auch noch eine Menge anderer, geheimnisvoller Zutaten in seiner Hütte aufbewahrte, mit denen er seine Metalle veredelte oder auch das Feuer heißer brennen lassen konnte als jeder andere. Irgendetwas musste hier schrecklich schief gegangen sein.
Ihre Mutter kam zurück, warf ihr im Vorbeistürmen einen zornigen Blick zu und verschwand wieder in der Dunkelheit, um abermals nach wenigen Augenblicken mit einem Gefäß voller Wasser zurückzukommen. »Also gut!«, schrie sie über das Brüllen der Flammen hinweg, als sie an ihr vorbeirannte. »Dann mach dich nützlich! Hilf mit, eine Kette zu bilden!«
»Wo sind Kron und Achk?«, rief Arri ihr nach. Sie bekam keine Antwort, wahrscheinlich hatte ihre Mutter die Worte unter all dem Lärm gar nicht gehört. Als sie das nächste Mal zurückkam, schloss Arri sich ihr an. Sie stürmten weiter und auf den Dorfplatz hinaus, der vom Lodern der Flammen in ein unheimliches, düsteres Rot getaucht wurde. Das flackernde Licht zerhackte die Bewegungen der Menschen zu einer rasenden Abfolge einzelner Bilder und machte sie zu einem höllischen Tanz. Tatsächlich hatten die Dorfbewohner eine unregelmäßige zerbrochene Kette quer über den Platz und bis hinunter zum Fluss gebildet, die jedoch aus viel zu wenigen Gliedern bestand, sodass sie die gefüllten Behältnisse unterschiedlichster Form und Größe nicht einfach weiterreichen konnten, sondern zu einem kräftezehrenden und vor allem zeitraubenden Hin und Her gezwungen waren. Lea riss einem Kind, das unter dem Gewicht eines gefüllten Kruges fast zusammenzubrechen schien, seine Last kurzerhand aus den Fingern, fuhr herum und versetzte Arri aus der Bewegung heraus einen Stoß, der sie an den Platz des Jungen beförderte. »Hilf mit!«, schrie sie, während sie bereits im Laufschritt wieder davonhetzte.