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»Ich bin es nur... Arri.« Um ein Haar hätte sie Arianrhod gesagt, im allerletzten Moment aber brachte sie es nicht über die Lippen. Vermutlich war der Gedanke einfach nur kindisch, doch Arianrhod war noch zu neu und zu kostbar für sie, um es mit allen zu teilen. Schon gar nicht mit Rahn. »Ich soll nach euch sehen und mich davon überzeugen, dass euch auch wirklich nichts fehlt. Und meiner Mutter ein paar Dinge bringen, die sie benötigt, um die Verletzten zu versorgen.«

»Was soll mir schon fehlen, du dummes Kind«, krähte Achk. »Außer meinem Haus, meinem Werkzeug und allem, was ich besessen habe?«

Arri setzte zu einer scharfen Antwort an - sie hätte nichts anderes von Achk erwarten dürfen, und doch ärgerte sie seine Undankbarkeit über die Maßen -, aber dann fing sie einen warnenden Blick aus Krons Augen auf und beließ es bei einem Schulterzucken und einer abfälligen Grimasse, die der Blinde nicht sehen konnte. »Dann gehe ich jetzt zurück und bringe meiner Mutter das Verbandszeug und die Salben, um die sie mich gebeten hat.«

»Such die Sachen nur heraus«, sagte Rahn. »Ich bringe sie ihr.«

Arri maß ihn mit einem gleichermaßen verstörten wie verächtlichen Blick. »Du?«

»Ich glaube, es ist besser, wenn du für den Rest der Nacht hier bleibst«, sagte Rahn ungerührt. »Und davon abgesehen ist es auch der Wunsch deiner Mutter.«

»Ach?«, machte Arri schnippisch. »Und woher willst ausgerechnet du das wissen?«

»Weil es meine Aufgabe ist, auf dich aufzupassen«, antwortete Rahn, noch immer lächelnd und scheinbar vollkommen ungerührt von Arris bewusst herausforderndem, fast schon beleidigenden Ton. Was sie umso mehr ärgerte.

»Das ist deine Aufgabe?«, vergewisserte sie sich, wartete, bis Rahn wichtigtuerisch genickt hatte, und fragte dann mit einem übertriebenen Stirnrunzeln: »Seltsam. Vorhin, als Sarn mit seinem Knüppel auf mich losgegangen ist, hatte ich nicht das Gefühl, dass du auf mich aufgepasst hast.«

»Dir ist doch nichts passiert, oder?«, gab der Fischer gelassen zurück. Aber der überhebliche Ausdruck in seinen Augen erlosch, und er nahm die Arme herunter. »Such die Sachen heraus, nach denen deine Mutter verlangt, damit ich endlich gehen kann.«

Die letzten Worte hatte er in merklich kühlerem Ton gesprochen, der allein Arri verriet, dass ihn diese Bemerkung nicht annähernd so unberührt ließ, wie er vorgab. Arri lächelte ihm noch einmal zuckersüß zu, dann schob sie sich an ihm vorbei und trat in den kleinen Raum, in dem ihre Mutter all ihre Utensilien verwahrte. Sie wusste selbst nicht genau, was von all den Salben, Kräutern, Tinkturen und Blättern ihre Mutter in diesem Augenblick benötigte. Lea hatte ihr das eine oder andere über die Heilkunst und vor allem die verborgenen Kräfte der Natur und wie man sie am besten einsetzte beigebracht, aber längst nicht alles, und spätestens seit dem schrecklichen Schicksal, das Achk im letzten Sommer widerfahren war, wusste sie, dass Brandwunden nicht nur zu den schmerzhaftesten, sondern auch zu den gefährlichsten Verletzungen gehörten, die Menschen davontragen konnten.

Sie sahen - zumindest am Anfang - nicht so schlimm aus wie Schnittwunden, ein offen gebrochener Arm, ein gequetschter Finger oder ein ausgestochenes Auge, doch in fast allen Fällen, die Arri miterlebt hatte, heilten sie nur sehr langsam und begannen oftmals zu schwären und mit ihrem Gift den Körper des Verletzten zu verseuchen. Dass Achk die schreckliche Verbrennung überlebt hatte, die nicht nur sein Augenlicht ausgelöscht, sondern sein ganzes Gesicht verheert hatte, war ein mehr als nur kleines Wunder. So suchte sie nahezu alles heraus, von dem sie auch nur annahm, dass es ihrer Mutter von Nutzen sein konnte, häufte es in eine grob geschnitzte hölzerne Schale und trug sie wieder hinaus, um sie Rahn in die Hände zu drücken.

»Bring das meiner Mutter«, sagte sie barsch. »Und frag sie, ob sie meine Hilfe nicht doch benötigt. Ich werde sie später fragen, was sie geantwortet hat.«

Rahn griff sich die Schale und verließ zu Arris Überraschung ohne ein weiteres Wort das Haus, doch als sie sich wieder zu Kron und dem Blinden umdrehte, begegnete sie dem tadelnden Blick des Jägers. »Warum bist du so zu ihm, du dummes Kind?«, fragte Kron.

»Ich bin kein Kind mehr«, antwortete Arianrhod, zog die Augenbrauen zusammen und fügte hinzu: »Was meinst du damit - so?«

»So abweisend«, antwortete Kron. »Weißt du denn nicht, dass er schon lange ein Auge auf dich geworfen hat?«

Das ist ja gerade das Problem, dachte Arri. Sie behielt diese Worte vorsichtshalber für sich, doch Kron fuhr fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen (wahrscheinlich war es in diesem Augenblick nicht besonders schwer, sie auf ihrem Gesicht zu erkennen): »Rahn ist ein guter Mann. Ein starker Mann. Eine wie du sollte froh sein, einen Burschen wie Rahn zu bekommen.« Er maß sie mit einem durchdringenden, eindeutig anzüglichen Blick. »Du bist wahrlich alt genug, um endlich einem Mann versprochen zu werden. Hüte also deine Zunge und danke den Göttern lieber dafür, dass einem wie Rahn an einem so hässlichen dürren Ding wie dir gelegen ist.«

Arri würde den Göttern frühestens an dem Tag danken, an dem ihre Mutter sie mit der Neuigkeit weckte, dass Rahn in der Zella ertrunken oder von einem wütenden Eber aufgeschlitzt worden sei, aber sie behielt auch das für sich und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Das Thema behagte ihr ganz und gar nicht, zumal sie nicht wusste, was Kron von Nors Forderung wusste. Vielleicht einzig, um davon abzulenken, trat sie dichter an Achk heran, der sich gleich neben der Tür mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte und mit unstet hin und her huschenden, blinden Augen die Richtung zu bestimmen versuchte, aus der ihre Stimme und das Geräusch ihrer Schritte kamen. Sie musterte ihn aufmerksam und fragte dann: »Bist du verletzt?«

»Nein«, sagte Achk grob, was eindeutig gelogen war. Sein verheertes Gesicht, das aus nahezu nichts anderem als verschorften Narben und hässlichen Geschwüren bestand, machte es schwer, wirklich darin zu lesen, doch Arri glaubte dennoch, eine ganze Anzahl neuer, wenn auch größtenteils harmloser Wunden zu erkennen. Und was für sein Gesicht galt, galt in noch größerem Maße für seine Hände. Seine Finger waren schon vor Arris Geburt schwarz verkohlt und über und über vernarbt gewesen, doch bei genauerem Hinsehen entdeckte sie auch darauf eine ganze Anzahl kleiner, nässender roter Punkte. Er musste Schmerzen haben. Aber wenn er es vorzog, ihre Hilfe abzulehnen, so war das seine Sache.

Mit einem fragenden Blick wandte sie sich zu Kron um. »Und du?«

Kron hatte entweder größere Schmerzen als der Schmied, oder er war einfach vernünftiger. Er sagte nichts, hielt Arri aber die rechte Hand hin, auf der etliche große, hässliche Brandblasen schimmerten. Weitere, wenn auch nicht ganz so schlimm aussehende nässende Wunden und Kratzer bedeckten seine Arme, den nackten Oberkörper und Rücken, und auch sein Armstumpf hatte offensichtlich wieder zu bluten begonnen, was Arri gar nicht gefiel. Ohne ein weiteres Wort trat sie abermals in die Kammer und kam nach wenigen Augenblicken mit einer Hand voll frischer Blätter und einem kleinen, irdenen Gefäß mit einer Salbe zurück, von der sie wusste, dass sie eine kühlende und auch leicht betäubende Wirkung entfaltete, wenn man sie auf eine Wunde auftrug.

In ihrem Kopf war eine ganz leise, aber penetrante Stimme, die sie daran zu erinnern versuchte, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welche Wirkung diese Salbe sonst noch haben mochte, und durchaus die Gefahr bestand, dass sie alles schlimmer machte statt besser, aber sie schob sie beiseite. Wortlos stellte sie das mitgebrachte Gefäß vor Kron auf den Boden, verließ die Hütte und kam wenige Augenblicke später mit einem Krug voll frischen Wassers zurück, den sie allerdings nur halb gefüllt hatte, um nicht so schwer tragen zu müssen.

Kron sah sie zweifelnd an, streckte aber gehorsam die Hand aus, als sie ihn mit einer entsprechenden Kopfbewegung dazu aufforderte, und Arri versorgte seine Wunden, so gut sie es konnte. Sie war nicht sicher, ob es auch wirklich gut war. Kron war ein starker Mann, dem so leicht kein Schmerzenslaut über die Lippen kam, und dennoch sog er ein paar Mal scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, und obwohl er nichts sagte, wurden die Blicke, mit denen er sie maß, immer zorniger. Dennoch ließ er ihre Behandlung nahezu klaglos über sich ergehen und bedankte sich sogar mit einem angedeuteten Nicken, als Arri endlich fertig war, und sie das Tuch, mit dem sie seine Wunden ausgewaschen hatte, in dem Gefäß mit dem mittlerweile schmutzig gewordenen Wasser auswrang.