Выбрать главу

»Was war deine Schuld?«, fragte Arri. Ihr Blick irrte zwischen den Gesichtern Rahns, des Blinden und ihrer Mutter hin und her, aber sie bekam keine Antwort. Vielleicht nahmen die drei sie in diesem Augenblick nicht einmal zur Kenntnis. Ganz sicher hatten sie ihre Frage nicht gehört.

Ein unangenehmes, lastendes Schweigen breitete sich in der für ein solches Gespräch viel zu kleinen Hütte aus, und Arri begriff zumindest eines: dass Rahn mit seinen unbedachten Worten etwas ausgesprochen hatte, was - außer ihr - jedermann zu wissen schien, was aber nach einer nie laut getroffenen Absprache für immer unausgesprochen bleiben sollte. »Was war deine Schuld?«, fragte sie noch einmal.

Im allerersten Moment war sie sicher, auch jetzt wieder keine Antwort zu bekommen, denn in den Augen ihrer Mutter blitzte schon wieder der ungeduldige Zorn auf, den Arri immer dann darin las, wenn sie sie auf etwas ansprach, das ihr unangenehm war, oder ihr eine Frage stellte, die sie nicht beantworten wollte, und dem nur zu oft ein jäher Wutausbruch folgte.

Diesmal jedoch nicht. »Achk«, sagte sie. »Was ihm zugestoßen ist, war meine Schuld. Seine Augen. Ich bin schuld, dass er seine Augen verloren hat. Und alles andere auch.«

Arri sah den blinden Schmied gleichermaßen überrascht wie ungläubig an. Sie hatte niemals wirklich erfahren, was Achk zugestoßen war, eben nur, dass es ein schreckliches Unglück gewesen war, bei dem sich Achk nicht nur schlimme Verbrennungen im Gesicht zugezogen, sondern auch beide Augen (und nach Arris Meinung auch einen gut Teil seines Verstandes) verloren hatte. Sicher, es hatte Gerede gegeben, das auch ihr zu Ohren gekommen war, aber sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Wozu auch? Es gab ständig dummes Gerede. Was immer im Dorf geschehen mochte, wenn es nur schlimm genug war, wurde es unweigerlich ihrer Mutter angelastet, und sei es etwas so ganz Natürliches wie ein Herbststurm oder aber ein heftiges Gewitter.

Aber jetzt fragte sie sich, ob es in diesem Fall vielleicht doch mehr als das ganz gewöhnliche Gerede gewesen war.

Zu ihrem Erstaunen war es ausgerechnet Achk, der ihrer Mutter widersprach. »Du redest wirres Zeug, Weib«, sagte er barsch. »Es war nicht deine Schuld. Ich habe nicht richtig zugehört. Du hast mir gesagt, dass ich vorsichtig sein muss und nichts überstürzen soll. Ich war zu ungeduldig, und ich wollte dir zeigen, dass ich es besser weiß als du. Es war mein Stolz, der das Unglück ausgelöst hat, und nicht deine Schuld.«

»War es doch«, widersprach Lea. Bei dem doch ließ sie die Handfläche wuchtig auf die Lehne des Korbstuhls klatschen, auf der sich Rahn gerade noch hatte niederlassen wollen, aber ihre Stimme war so kraftlos und brüchig, dass sich die beabsichtigte bekräftigende Wirkung eher ins Gegenteil verkehrte.

»Was ist geschehen?«, fragte Arri ein weiteres Mal. »Ihr müsst es mir sagen.«

»Was wir müssen, entscheide immer noch ich, mein Kind«, antwortete Lea, zwar in strengem Ton, aber noch immer mit der gleichen brüchigen Stimme, die ihren Worten jede Schärfe nahm. Müde ließ sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn sinken, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Aber vielleicht hast du Recht«, fuhr sie fort. »Ich hätte es dir schon längst erzählen sollen, bevor dir irgendetwas von dem Unsinn zu Ohren kommt, den Sarn herumerzählt.« Sie nahm die Hände herunter, sah Arri nachdenklich ins Gesicht und sagte dann: »Oh. Du hast es offensichtlich schon gehört.«

»Du hast es ja gerade selbst gesagt«, erwiderte Arri und beglückwünschte sich in Gedanken dazu, so schnell auf eine Entgegnung gekommen zu sein, die es ihr ermöglichte zu antworten, ohne zu antworten. »Es ist alles nur Unsinn.«

»Und nun willst du wissen, was wirklich geschehen ist.« Lea verbarg das Gesicht erneut in den Händen. Ihre Schultern sanken nach vorn, als hätte sie sich bisher gegen eine unsichtbare Last gestemmt, der sie nun ganz plötzlich nicht mehr gewachsen war. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie leise. »Einen schlimmen Fehler, Arianrhod. Sicher nicht den ersten, seit ich hierher gekommen bin, aber den schlimmsten.«

»Und was war das für ein Fehler?«, fragte Arri, als ihre Mutter nicht weitersprach.

»Ich habe es gut gemeint«, antwortete Lea. Sie lachte bitter. »Weißt du, dass die allergrößten Fehler meist die sind, die in bester Absicht begangen werden?«

Arri tauschte einen fragenden Blick mit Rahn, erntete aber nur ein ratloses Schulterzucken und einen noch ratloseren Blick.

»Und was war das für ein Fehler?«, fragte sie.

»Ich wollte die Dinge beschleunigen«, sagte Lea. »Vielleicht war das mein einziger Fehler, aber er war schlimm genug. Die Dinge brauchen ihre Zeit, weißt du? Ich kam hierher, und ich sah, dass die Menschen hier so... so schrecklich wenig wussten, und dass sie hilflos den Jahreszeiten ausgesetzt waren, kaum in der Lage, Getreide für den täglichen Gebrauch anzubauen oder ihre Jagden zu planen. Es war wie ein Sturz in eine andere Zeit, tausend Jahre zurück. Ich dachte, ich könnte ihnen helfen, diese verlorene Zeit aufzuholen und auf Dauer den Hunger aus ihren ständig knurrenden Mägen zu vertreiben. Ich habe mich geirrt.«

Sie nahm die Hände herunter und faltete sie im Schoß, während sie sich zugleich wieder aufsetzte und die Schultern straffte. Seltsam - Arri war fest davon überzeugt gewesen, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen, aber ihre Miene wirkte gefasst, und ihre Stimme klang jetzt nur noch sachlich. »Ich wollte Achk lehren, Eisen zu schmieden.«

»Eisen?«

»Das Metall, das unser Volk verwendet hat.« Lea machte eine Kopfbewegung zur Wand hin. »Das, aus dem auch mein Schwert geschmiedet ist. Es hätte den Menschen hier einen gewaltigen Vorteil vor allen anderen verschafft. Bessere Werkzeuge. Mächtigere Waffen. Tausend Dinge, die mit der weichen Bronze hier nicht möglich waren.«

»Und was war daran so falsch?«, wollte Arri wissen. Was ihre Mutter da erzählte, klang nach einer guten Idee, auch wenn es sich ziemlich abenteuerlich anhörte. Aber das galt ja im Grunde für jede Idee, die ihre Mutter ausbrütete.

»Falsch war daran, dass ich glaubte, alles zu wissen und klüger zu sein als das Schicksal«, antwortete Lea bitter. »Ich war Priesterin, Arianrhod, kein Schmied. Ich dachte, ich kenne das Geheimnis, Eisen zu schmelzen. Ich hatte ein paar Mal zugesehen und das eine oder andere aufgeschnappt und war überheblich genug zu glauben, dass das reicht.« Sie seufzte leise. »Wie sich gezeigt hat, hat es nicht gereicht.«

»Was ist geschehen?«, fragte Arri wieder. Die Frage galt eigentlich Achk, und der Schmied schien das auch zu spüren, denn er setzte zu einer Antwort an, aber Lea kam ihm zuvor.

»Die Rezeptur war wohl falsch«, sagte sie. »Als Achk die Schmelze angestochen hat, ist sein Ofen zerborsten. Das geschmolzene Metall hat sein Gesicht und seine Augen verbrannt. Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat.«

»Das hat wohl eher mit deinen heilenden Händen zu tun«, widersprach Achk.

Abermals fiel Arri auf, dass der blinde Schmied mit erstaunlich klarer Stimme sprach, und sie war erstaunt über das, was er sagte. Sie sah den Alten stirnrunzelnd an. Natürlich war es unmöglich, in der zerstörten Landschaft seines Gesichts zu lesen, aber es kam ihr trotzdem so vor, als wäre der Ausdruck darauf deutlich klarer geworden. Konnte es sein, dass Achk ihr - und dem gesamten Dorf - die ganze Zeit über nur etwas vorgespielt hatte? Nein, entschied sie. Es war wohl eher anders herum. Auch wenn ihr der Gedanke zuallererst vollkommen widersinnig vorkam, schien Achk doch aus der Katastrophe, die sein Leben nun zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit heimgesucht hatte, Kraft gewonnen zu haben.

»Das war wohl das Mindeste, was ich dir schuldig war«, antwortete Lea. Plötzlich lächelte sie. »Und es war ganz gewiss nicht allein mein Verdienst. Du hattest Glück, Achk. Und du bist ein zäher alter Knochen.«