»Schlaf jetzt«, sagte ihre Mutter. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«
Eine weitere rätselhafte Bemerkung, die eher dazu angetan war, Arris Gedanken weiter zu beschäftigen und sie wach zu halten, denn schließlich war jeder Tag anstrengend, gerade im Sommer, wenn die Nächte kurz waren und sie demzufolge weniger Schlaf bekam. Arri verkniff sich aber jede entsprechende Frage und schloss sogar die Augen, wohl wissend, dass sie ganz bestimmt keinen Schlaf finden würde - mit dem Ergebnis, dass sie beinahe augenblicklich einschlief...
... und sich übergangslos in einem Albtraum wiederfand.
Sie war nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Albtraum war, aber sie wusste, dass sie träumte, denn sie träumte diesen Traum sehr oft und seit sie sich erinnern konnte; nicht jede Nacht, aber doch oft genug, dass das Wissen, sich in einer fremden Welt zu befinden, die es nur in den tiefsten Tiefen ihrer Gedanken gab, ganz allmählich seinen Weg in jene bedrückenden Gefilde zurückgefunden hatte, und sie schon wusste, was kam, als die ersten Bilder in ihrem Kopf auftauchten. Nicht genau. Der Traum war nicht immer gleich, und er erzählte auch keine Geschichte, jedenfalls keine, die sie zu erkennen vermocht hätte oder die irgendeinen Sinn ergab. Im Großen und Ganzen änderte sich jedoch nicht viel.
Sie träumte von Feuer, das vom Himmel regnete, und da waren Schreie, ein dumpfes Poltern und Tosen und Krachen, wie das Dröhnen zusammenstürzender Berge, und der allgemeine Geruch von Panik und Flucht lag in der Luft. Verzerrte Gesichter tauchten rings um sie herum auf und erloschen wieder, bevor sie sie erkennen konnte, und irgendwie war da auch Wasser, aber eine ganz andere Art von Wasser als die, welche sie kannte. Schwarze Wellen, die sich höher als die höchsten Bäume auftürmten und schaumige weiße Kronen hatten, Wasser, das so hart wie Stein war und Boote und Häuser und Menschen gleichermaßen zerschlug, und immer wieder Schreie und grellblaue, tausendfach verästelte Blitze, die den schwarz gewordenen Himmel zerrissen.
Ihr Herz begann zu rasen. Dass sie um die Tatsache wusste zu träumen, beschützte sie nicht vor der Furcht, mit der dieser Traum sie erfüllte. Sie glaubte Schmerz zu fühlen, nicht nur den eigenen Schmerz, sondern den eines anderen, von dem sie mit unerschütterlicher Gewissheit wusste, dass es ihre Mutter war, und Angst und eine so allumfassende Verzweiflung, dass sie im Schlaf ein leises, gequältes Wimmern ausstieß.
Noch immer regnete Feuer vom Himmel, zitterte und bebte die Erde, über die sie liefen, wie der Leib eines riesigen Tieres, das sich in Todeskrämpfen wand, zerschmetterten himmelhohe Wellen, die plötzlich härter waren als der Stein, gegen den sie anrannten, die Küste, ließen kleine Boote und mächtige Schiffe mit hundert Rudern und haushohen Masten samt ihren Besatzungen gleichermaßen hilflos durch die Luft wirbeln, bevor sie im kochenden Wasser versanken oder an den Klippen zerschmettert wurden, und überall rings um sie herum waren Menschen, die schrien und jammerten und um ihr Leben rannten. Manche brannten. Die Häuser der leicht abschüssigen Straße, die sie entlangrannten - seltsame Häuser, die es nur in diesem Traum gab und die so hoch waren wie Bäume und aus Stein gebaut, nicht aus Weidenzweigen und Holz und Lehm -, wankten wie biegsames Schilf im Sturm, und manche stürzten in sich zusammen, sodass der Stein ihrer Wände die Menschen erschlug, die sich in ihrer Nähe aufhielten.
»Arri!«
Ihre Angst wurde übermächtig. Etwas war heute anders. Der Traum schien wirklicher, auf eine durchaus körperliche Art bedrohlich, und zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, dass es vielleicht gar kein Traum war, sondern etwas anderes, ohne dass sie hätte sagen können, was. Etwas engte sie ein, ein Gefühl des Verlorenseins, das mit jedem Atemzug schlimmer wurde.
»Arri!«
Sie musste weg aus dieser Hölle, aber es gab kein Wohin. Über ihr war nichts als der schwarze Himmel, aus dem abwechselnd und manchmal auch gleichzeitig gleißende Blitze und riesige Bälle aus purem, loderndem Feuer herabregneten, vor ihr das Wasser, eine unendliche, kochende schwarze Fläche, die bis ans Ende der Welt reichte und dort mit dem schwarzen Himmel verschmolz, und hinter ihr hatte sich die Erde zu einem neuen Berg aufgetürmt und erbrach flüssiges Feuer und tödlichen schwarzen Rauch, der jeden Atemzug zu einer brennenden Qual machte.
»Arianrhod! Wach auf!«
Es war die vertraute Stimme ihrer Mutter, die den Bann brach. Von einem rasenden Herzschlag auf den nächsten befand sich Arri wieder in der Wirklichkeit, auch wenn der Albtraum ihr noch einen letzten, bösen Gruß mitgegeben hatte. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, und auf ihrer Zunge war der süßliche Geschmack von Blut. Sie hatte sich auf die Lippen gebissen. Erst nach zwei, drei schnellen Atemzügen wurde sie sich der schlanken, aber kräftigen Hände ihrer Mutter bewusst, die ihre Handgelenke gepackt hatten und festhielten; offensichtlich hatte sie im Schlaf um sich geschlagen. Wahrscheinlich hatte sie auch geschrien, denn ihr Hals tat weh.
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte ihre Mutter.
»Ja«, log Arri. Das war lächerlich. Rein gar nichts war in Ordnung. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, sie zitterte am ganzen Leib, und wenn sie die Augen schloss, dann sah sie noch immer Flammen, die vom Himmel regneten, und schwarzes Wasser, das die Erde verschlang. Trotzdem nickte sie noch einmal, um ihre Behauptung zu bekräftigen, und versuchte sich aufzusetzen, doch der Traum hatte sie so geschwächt, dass ihre Mutter ihr dabei helfen musste.
»Du hattest wieder den Traum, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend.
Arri nickte. Sie versuchte Speichel unter der Zunge zu sammeln, um den widerlichen Blutgeschmack loszuwerden, und schluckte ein paar Mal, was es aber eher schlimmer zu machen schien. Spielte ihr die Erinnerung einen Streich, oder hatte ihre Mutter sie tatsächlich bei ihrem richtigen, geheimen Namen genannt, einem Namen, den außer ihr selbst und ihrer Mutter doch niemand wissen durfte, sodass sie ihr so lange eingeschärft hatte, ihn niemals zu gebrauchen, bis sie beinahe angefangen hatte, ihn zu vergessen?
»Habe ich dich geweckt?«, fragte sie, noch immer mit leicht schleppender Stimme und unentwegt schluckend. Die Erinnerung ließ sie einfach nicht mehr los. Immer mehr Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge, sodass sie immer schneller schlucken musste und es dadurch nur immer schlimmer machte, und nun breitete sich auch ein leises Gefühl von Übelkeit in ihrem Magen aus. Diesmal hatte ihr der Traum wirklich zugesetzt, und das war seltsam, denn in gewisser Beziehung war er wie ein guter, alter Freund, der in leicht veränderter Form immer wiederkehrte und der seinen Schrecken auf diese Weise doch eigentlich verlieren sollte.
»Nein«, antwortete ihre Mutter. Arri brauchte einen Moment, um die Antwort der Frage zuzuordnen, die sie selbst gerade gestellt hatte. Auch ihre Gedanken waren irgendwie... durcheinander. Es schien, als wäre der Traum noch da. Sie hatte Mühe, sich von den schrecklichen Bildern zu lösen, die sie zum allerersten Mal nun auch im Wachsein sah; nicht als Erinnerung an den durchlittenen Traum, sondern als Erinnerung an etwas, das sie wirklich erlebt hatte. Aber konnte das sein?
»Hier«, sagte ihre Mutter. »Trink das.« Der verschwommene Schatten, als den sie die Gestalt ihrer Mutter in der Dunkelheit erkannte, bewegte sich leicht, und dann spürte Arri, wie ihr etwas Hartes an die Lippen gesetzt wurde. Gehorsam schluckte sie, verzog angewidert das Gesicht, denn der Trank war nicht nur eiskalt, sondern schmeckte auch schlecht; sie wollte den Kopf wegdrehen und gab ihren Widerstand im Grunde sogleich wieder auf, als ihre Mutter ihr mit einer entsprechenden Bewegung klarmachte, dass sie den Becher ganz leeren sollte. Als sie es getan hatte, war in ihrem Mund ein Geschmack, als hätte sie versehentlich etwas gegessen, was schon seit längerer Zeit tot war, aber die Übelkeit war verschwunden, und auch ihr hämmerndes Herz beruhigte sich zusehends.