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Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Stelle passierte, an der Achks Hütte gestanden hatte. Selbst jetzt schien noch ein spürbarer Hauch von Wärme in der Luft zu hängen; nicht die Wärme der Herbstsonne, die zu dieser Tageszeit noch immer eine erstaunliche Kraft hatte, sondern eine vollkommen andere, zerstörerische Kraft, die sich in der zurückliegenden Nacht hier ausgetobt hatte und deren Echo noch immer zu spüren war. Unter ihren Füßen wirbelte die weiße Asche auf, die alles war, was das Feuer von Achks Schmiede übrig gelassen hatte.

Ganz wie in der Nacht zuvor schlug sie unwillkürlich einen fast furchtsamen Bogen um den schwarz verbrannten Kreis auf der Erde, und es war auch dasselbe Gefühl wie zu jenem Zeitpunkt: Sie glaubte nicht nur das Feuer zu spüren, das hier getobt hatte, sondern noch etwas anderes, viel Dunkleres, als hätte das, was Sarn oder seine Götter getan hatten, unsichtbare Spuren hinterlassen, die man weder greifen noch sehen noch riechen konnte und die doch die Kraft hatten, ihrer aller Leben zu verändern und sie zu zwingen, sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinander zu setzen.

Warum hatte sich Sarn so offen gegen sie gewandt? Arri hatte durchaus verstanden, was ihre Mutter ihr gesagt hatte, aber das bedeutete nicht, dass sie es auch begriff. Wie war es möglich, dass Sarn die Zukunft des ganzen Dorfes aufs Spiel setzte, nur aus verletztem Stolz heraus? Oder hatte es doch etwas mit dem Glauben an die alten grausamen Götter zu tun, der tief in die Seele des Schamanen und der ganzen anderen Sippe eingebrannt war?

Sie hatte den halben Weg zur Hütte hinab hinter sich gebracht, als sie eine Bewegung am Waldrand wahrnahm. Etwas schimmerte hell zwischen den Schatten der Bäume, und silberfarbenes Metall blitzte im Sonnenlicht. In Erwartung, dass es ihre Mutter war, beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr und hob zugleich den Arm, um ihr zuzuwinken.

Ihr Gruß wurde nicht erwidert, und die Gestalt trat auch nicht weiter aus dem Wald heraus, sondern verschmolz ganz im Gegenteil erneut mit den Schatten und war einen Augenblick später endgültig verschwunden.

Arri war verwirrt. Ihre Mutter musste sie gesehen haben. Wieso hatte sie nicht auf ihr Winken reagiert oder war wenigstens stehen geblieben?

Sie beschleunigte ihre Schritte abermals, erreichte die Stelle am Waldrand und blieb wieder stehen. Sie lauschte. All die üblichen Geräusche des Waldes drangen aus dem schattigen Grün an ihr Ohr, und vielleicht - aber auch wirklich nur vielleicht - das Geräusch leichter Schritte, die sich rasch entfernten.

Arri war beunruhigter, als sie zugeben wollte. Wenn es ihre Mutter war, die sie gesehen hatte, warum zeigte sie sich dann nicht, sondern lief im Gegenteil davon - und wenn es ein Fremder war, was wollte er dann hier, und wieso zeigte er sich nicht, um das Gastrecht in Anspruch zu nehmen?

Sie dachte daran, der vermeintlichen Gestalt nachzugehen, aber ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, ganz allein diesen düsteren, von Schatten und sonderbaren Geräuschen erfüllten Wald ganz in der Nähe des Heiligtums zu betreten. Mit aller Gewalt zwang sie sich, nicht daran zu denken, dass der Schatten von etwas ganz anderem stammen könnte, von etwas, das mit Sarns Göttern zu tun hatte und mit den blutigen Beschwörungsriten, die der greise Schamane ab und zu in dem düsteren Kreis steinerner Giganten zelebrierte...

Es musste ihre Mutter gewesen sind. Ganz sicher. Und wenn das tatsächlich stimmte, dann hatte sie ihre Gründe gehabt, nicht auf ihr Winken zu reagieren, und wäre ganz bestimmt nicht erfreut, wenn sie ihr jetzt nachging. Und wenn nicht...

Arri konnte ein eisiges Frösteln nicht unterdrücken, das ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinablief. Es gab Gerüchte, dass sich im Steinkreis etwas herumtrieb, das nichts Menschliches an sich hatte. Aber das war mit Sicherheit dummes Gerede. Es gab ja auch noch ganz andere, viel greifbarere Gefahren.

Plötzlich musste Arri an den sonderbaren Fremden denken, der ihr das Leben gerettet hatte. Was, fragte sie sich, wenn Sarn und die anderen Recht hatten und dieser Mann nur der Späher war, dem andere folgen würden; vielleicht ein ganzes Heer, das sich jetzt schon bereitmachte und ihren Untergang plante...

Die Vorstellung war kindisch. Schon ihre Vernunft sagte ihr, dass es nicht so sein konnte. Wäre dieser Fremde, auf den sie im Wald gestoßen war, in feindlicher Absicht hier, hätte er ihr schwerlich das Leben gerettet und somit die Gefahr auf sich genommen, seine Anwesenheit frühzeitig zu offenbaren. Er hätte nicht einmal die Hand gegen sie zu erheben brauchen; es hätte ja vollkommen ausgereicht, wenn er gar nichts getan und einfach abgewartet hätte, bis der Wolf sie tötete.

Der Fehler in diesem Gedankengang fiel ihr auf, noch bevor sie ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Wenn dieser Fremde tatsächlich nur die Vorhut einer ganzen Horde wilder Krieger darstellte, konnte er es sich gar nicht leisten, dass jemand vermisst wurde und womöglich das ganze Dorf nach ihm suchte und die umliegenden Wälder durchkämmte.

Was war denn dieser unheimliche Fremde nun - ihr geheimer Schutzengel oder ihr schlimmster Feind? Oder stammte der Schatten, den sie gesehen hatte, doch von jemand - oder etwas - ganz anderem, von etwas, das mit dem Heiligtum und ihrem heimlichen Besuch dort zu tun hatte?

Es war verwirrend. Verwirrend und sehr beängstigend.

Sie scheute davor zurück, wieder ins Dorf zu gehen. Dort gab es nichts für sie zu tun, und sie wollte auch nicht dorthin, schon aus Angst, den Schamanen oder vielleicht auch Kron zu treffen. Aber auch ihr eigenes Zuhause erschien ihr im Augenblick nicht sicher genug. Wäre doch nur ihre Mutter hier gewesen!

Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ sie zusammenzucken. Gehetzt sah sie nach rechts und links, drehte sich schließlich um, und ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie die beiden Gestalten erkannte, die oben am Ende des Weges aufgetaucht waren. Es waren Kron und der Schamane. Im allerersten Augenblick hatte sie Angst, sie hätten sie gesehen (was zumindest auf Kron ja auch zutraf) und wären ihretwegen gekommen, dann aber bemerkte sie, dass die beiden in einen heftigen Streit verwickelt waren. Kron deutete immer wieder mit seinem verbliebenen Arm dorthin, wo sich gestern zu dieser Zeit noch die Hütte des Schmieds befunden hatte, und auch Sarn tat dasselbe, allerdings abwechselnd mit dem linken Arm und seinem Stock, wobei er immer wieder heftig den Kopf schüttelte. Mehrmals deutete er auch zu Arris Hütte hinunter, und schließlich schien es ihm zu bunt zu werden, denn er umfasste seinen Stock mit beiden Händen und stampfte wütend damit auf den Boden.

Vielleicht hätte er das besser nicht getan, wenigstens nicht da, wo er gerade stand, denn das Ergebnis seiner jähzornigen Bewegung war eine gewaltige weiße Staub- und Aschewolke, die hochwirbelte und ihn und Kron zum Husten brachte. Beide wedelten unverzüglich mit der Hand vor dem Gesicht herum und wichen hastig ein paar Schritte zurück, und auch Arri trat ein kleines Stück in die Schatten des Waldes hinein; falls Kron und der Schamane sie nicht bereits gesehen hatten, dann mussten sie es ja auch nicht unbedingt noch tun. Sarns Laune war durch sein Ungeschick ganz gewiss nicht gestiegen - und wie sie den Schamanen kannte, würde er wahrscheinlich sie für seine eigene Dummheit verantwortlich machen.

Ihr schadenfrohes Grinsen erlosch schlagartig, als sie zwischen die Bäume trat. Es war hier spürbar kühler als draußen im Sonnenschein; eine unangenehme, feuchte Kälte, die das Nahen des Herbstes ungleich brutaler ankündigte, als es das warme Licht der Spätsommersonne draußen glauben ließ. Und ihre eigenen Gedanken, die sie gerade bewegt hatten, waren noch nicht vergessen. Der fremde Schatten war noch in ihrem Kopf, intensiv genug, sie schon wieder die Blicke unsichtbarer, lauernder Augen spüren zu lassen, die sie aus dem Hinterhalt heraus beobachteten.

Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung und zwang sich, sich langsam und sehr aufmerksam umzusehen. Der Wald war düster und kalt und feucht, aber das war auch schon alles. Niemand war da.