Solcherart beruhigt - wenn auch nicht so sehr, wie sie es sich gewünscht hätte -, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern oben am Weg zu und stellte verärgert fest, dass Kron zwar mittlerweile gegangen war, der Schamane aber gar nicht daran dachte, ihr denselben Gefallen zu tun und wieder zu verschwinden. Im Gegenteiclass="underline" Er blieb eine geraume Weile reglos und mit trotzig gespannten Schultern stehen und sah schließlich so genau in Arris Richtung, dass sie nahezu sicher war, er habe sie gesehen, unbeschadet des Umstands, dass sie tief in den Schatten des Waldes zurückgewichen war. Sein Blick suchte aufmerksam den Waldrand ab, nicht nur den Punkt, wo Arri stand, sondern auch den Bereich rechts und links davon, verharrte für eine geraume Weile auf der Hütte und kehrte dann wieder ziemlich genau zu der Stelle zurück, an der sich Arri verborgen hatte.
Sie überlegte ernsthaft, noch ein Stück tiefer in den Wald hineinzugehen und einen Bogen zu schlagen, um sich der Hütte so zu nähern, dass Sarn sie von seiner Position oben auf dem Weg nicht sehen konnte, doch der Schamane nahm ihr die Entscheidung ab. Schwer auf seinen Stock gestützt, kam er den abschüssigen Pfad herunter.
Einen Augenblick lang fand sie Gefallen an der Vorstellung, dass Sarn auf dem abschüssigen Weg den Halt verlieren, stürzen und sich den Hals brechen könnte, aber auch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er ging sehr langsam, und er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als eine weitere Gestalt hinter ihm erschien. Im ersten Moment konnte Arri sie im Gegenlicht der bereits tief stehenden Sonne nur als schwarzen Schatten erkennen, der dem Schamanen folgte, und als Sarn, der offensichtlich seine Schritte gehört hatte, stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, erkannte ihn auch Arri. Es war Grahl, Krons Bruder.
Gebannt und mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie Grahl rasch auf den Schamanen zuging und einige wenige, von heftigen Gesten und einem fast wütenden Deuten und Winken begleitete Worte mit ihm wechselte. Schließlich deutete Grahl wieder zum Dorf hin, doch Sarn schüttelte entschieden den Kopf und vollführte eine befehlende Geste mit seinem Stock, indem er auf Arris Hütte wies. Grahl zögerte sichtbar, gab sich dann aber mit einem Schulterzucken geschlagen, und die beiden setzten nebeneinander ihren Weg in diese Richtung fort. Arri löste sich aus ihrem Versteck und folgte den beiden im Schutz der Bäume. Als die beiden Männer schließlich vor der Hütte angekommen waren, sah Arri mit wachsendem Ärger zu, wie der Schamane die Stufen zur Tür hinaufstieg und dann in der Hütte verschwand, dicht gefolgt von Grahl.
Vielleicht sollte sie froh sein, dass ihre Mutter nicht da war. Sarn und der Jäger waren gewiss nicht gekommen, um sich für die vergangene Nacht zu entschuldigen oder ihrer Mutter einen Freundschaftsbesuch abzustatten.
Was sollte sie nun tun? Einen Moment lang dachte sie ernsthaft daran, die letzten Schritte bis zur Hütte hinabzulaufen und die beiden unverschämten Eindringlinge zur Rede zu stellen, verwarf diesen Gedanken aber fast so schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, was sie als Nächstes tun sollte, tauchte der Schamane bereits wieder unter der Türöffnung auf und tastete sich mit seinem Stock vorsichtig die schmalen Stufen hinab, sodass sich Arri nur noch mit einem schnellen Sprung hinter dem nahen Holunderbusch in Sicherheit bringen konnte. Grahl folgte ihm nach einer Weile, die gerade lang genug andauerte, um Arri sicher sein zu lassen, dass er nicht nur einen schnellen Blick in die Runde geworfen, sondern die Hütte gründlich durchsucht hatte. Die beiden entfernten sich ein paar Schritte von der Stiege, dann blieb Sarn wieder stehen und deutete mit seinem Stock fordernd auf den Waldrand.
Arri wich vorsichtshalber ein paar Schritte tiefer in das Unterholz zurück, obwohl sie vollkommen sicher war, dass die beiden Männer sie nicht sehen konnten. Grahl und der Schamane stritten aufgeregt weiter miteinander, dann machte Sarn eine abschließende Geste, und Grahl fügte sich. Nebeneinander und so schnell, wie es der alte Mann gerade noch konnte, gingen sie am Eichentrog vorbei und steuerten den Waldrand an.
Arri drohte in Panik zu geraten. Im allerersten Augenblick war sie sicher, dass die beiden sie nicht nur gesehen hatten, sondern auch auf dem Weg zu ihr waren, um ihr irgendetwas Schreckliches anzutun. Dann endlich fiel ihr auf, dass sich Sarn gar nicht direkt auf sie zubewegte, und sie erkannte, wie unsinnig dieser Gedanke war. Wenn Sarn ihr etwas zu sagen hatte, dann würde er sie einfach zu sich befehlen.
Es fiel ihr nicht besonders schwer, schneller in die Schatten zurückzuweichen, als Sarn und Grahl sich dem Waldrand näherten, aber ihre Beunruhigung steigerte sich, als sie sah, wie die beiden in den Wald eindrangen, wobei Grahl sein Messer zu Hilfe nehmen musste, um einen Pfad für den greisen Schamanen frei zu hacken. Sarn stolperte dennoch mehr, als dass er ging, und ohne seinen Stock hätte er nicht einmal die ersten drei Schritte geschafft, ohne auf die Nase zu fallen. Arri fand die Vorstellung einigermaßen erbaulich, aber es gab ihr auch zu denken. Sarn war ein alter Mann; wenn er stürzte, dann war das für ihn ganz und gar nicht komisch. Er musste schon einen triftigen Grund haben, ein solches Wagnis auf sich zu nehmen.
Wie dieser Grund aussah, das wurde Arri in dem Moment klar, als sie sah, dass Grahl nicht nur den Blick gesenkt hatte, um einen Pfad für den Dorfältesten frei zu hacken. Grahl suchte etwas.
Eine Spur.
Arris ungutes Gefühl zerstob schlagartig zu reinem Entsetzen, als ihr klar wurde, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgte. Sie wusste nicht, warum sich ihre Mutter so heimlich davongemacht hatte, und das sogar, ohne auf ihr Winken zu reagieren; doch warum und immer sie es getan hatte, sie hatte ganz gewiss einen triftigen Grund dafür gehabt. Und wenn das, weswegen sie in den Wald gegangen war, schon nicht für ihre Augen bestimmt war, dann erst recht nicht für die des Schamanen.
Für die Dauer eines Herzschlags drohte sie in Panik zu geraten, dann aber zwang sie sich mit einer gewaltsamen Anstrengung zur Ruhe und erwog hastig alle Möglichkeiten, die ihr offen standen. Besonders viele waren es nicht. Sie konnte versuchen, Grahl und den Schamanen irgendwie abzulenken (was aber vermutlich vollkommen aussichtslos war), sie konnte jemanden um Hilfe bitten (aber wen? Kron vielleicht oder den blinden Schmied? Lächerlich!), und sie konnte versuchen, ihre Mutter irgendwie zu warnen. Da das ohnehin die einzige Möglichkeit war, die im Mindesten Erfolg versprach, entschloss sie sich für Letzteres.
Reglos und mit angehaltenem Atem wartete sie, bis die beiden ungleichen Männer an ihrem Versteck vorübergegangen waren, spähte gebannt in die Richtung, in die sie sich entfernten, und erinnerte sich voller Unbehagen daran, dass Grahl des Spurenlesens mindestens ebenso mächtig war wie sie selbst und vermutlich sogar um einiges besser. Schließlich war er Jäger und noch dazu einer der Besten, die der Stamm jemals hervorgebracht hatte. Hinzu kam, dass er vermutlich nicht einmal besonders begabt sein musste, um die Spur ihrer Mutter zu finden. Sie waren in den letzten Tagen so oft in diese Richtung gegangen, das es selbst für einen Mann mit weitaus weniger scharfen Augen ein Leichtes sein musste, ihrer Fährte zu folgen.
Immerhin hatte sie einen Vorteiclass="underline" Sie ahnte, wohin sich ihre Mutter gewandt hatte, und war nicht darauf angewiesen, ihrer Spur zu folgen, und sie musste auch nicht auf einen uralten Greis Rücksicht nehmen, der fünf Schritte brauchte, wenn Grahl einen einzigen machte, und der mindestens bei zweien davon gestützt werden musste.
Arri ließ noch einige weitere Augenblicke verstreichen, bis sie ganz sicher war, dass sich die beiden tatsächlich außer Hörweite befanden, dann huschte sie los. Da sie darauf baute, dass Sarn den Jäger auch weiter so zuverlässig behindern würde wie bisher, ging sie das Wagnis ein, die beiden in großem Bogen zu umgehen, was sie zwar weitere Zeit kostete, die sie jedoch durch ihre größere Schnelligkeit und bessere Kenntnis des Waldes leicht wieder wettzumachen hoffte. Sie kam jedoch nicht annähernd so gut von der Stelle, wie sie gehofft hatte, denn auch sie musste immer wieder stehen bleiben und lauschen, um sicherzugehen, dass sie Grahl und seinem Begleiter nicht etwa ganz aus Versehen in die Arme lief.