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Arri bog die Äste vorsichtig noch ein wenig weiter auseinander, um besser sehen zu können, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Durch das nahezu vollkommen geschlossene Blätterdach des Waldes drang nur sehr wenig Licht, sodass sie kaum mehr als Schemen wahrnahm; zwei ineinander verschlungene Leiber, die sich jetzt immer schneller und hektischer bewegten, im gleichen Maße, wie auch das Seufzen ihrer Mutter zunahm und Rahns Atemzüge schneller und schärfer wurden.

Es war sonderbar. Der Anblick war Arri ebenso peinlich, wie er sie auch in den Bann schlug und es ihr fast unmöglich machte, sich von ihm zu lösen. Sie wollte das nicht sehen, nicht bei ihrer Mutter, und dennoch saugte sich ihr Blick beinahe gierig an jeder Bewegung fest, löste das, was sie eigentlich viel mehr erahnte als sah, doch eine sonderbare Sehnsucht in ihr aus; ein Sehnen nach etwas, das sie gar nicht kannte und auf das sie doch zeit ihres Lebens gewartet hatte, ohne es bis zu diesem Moment auch nur zu wissen.

Nach jener Nacht, in der sie Lea und Rahn überrascht hatte, hatte ihre Mutter ihr geduldig und in aller Ausführlichkeit erklärt, was sie da eigentlich gesehen hatte, und sie hatte geglaubt, es auch verstanden zu haben. Aber das stimmte nicht. Sie hatte die Worte verstanden, aber nicht, was sie bedeuteten. Jetzt verstand sie es, aber zugleich wuchs ihre Verstörtheit ins Unermessliche. Was sie sah, wurde ihr mit jedem Atemzug peinlicher, aber auch das Sehnen und Wünschen in ihr nahm zu; wenngleich auf eine erschreckende, verbotene Weise.

Das Ringen stöhnender Schatten ging weiter, und plötzlich warf sich ihre Mutter herum, schob Rahn von sich und glitt mit einer fließenden Bewegung hoch, bis sie rittlings auf ihm saß und mit einem Seufzen, das schon fast wie ein kleiner Schrei klang, den Kopf in den Nacken warf. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der irgendwo zwischen höchster Verzückung und abgrundtiefer Qual zu schwanken schien, aber sie hatte das Gesicht jetzt genau in Arris Richtung gedreht, und wenn sie die Augen auch nur um einen winzigen Spalt öffnete, dann musste sie sie einfach sehen.

Vorsichtig ließ Arri den Zweig wieder an seinen Platz zurückgleiten, bewegte sich dann in der Hocke zwei, drei Schritte weit zurück und stand lautlos auf - was im Grunde wenig Sinn ergab, denn Leas Keuchen und Seufzen musste mittlerweile weithin hörbar sein -, und sie wich auch dann noch einmal ein gutes Stück auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem zurück, bevor sie es auch nur wagte, sich umzudrehen und hörbar aufzuatmen.

Ihre Wangen glühten, und ihr Herz schlug als bitterer, harter Kloß direkt in ihrem Hals. All ihre Gedanken und Gefühle befanden sich in hellem Aufruhr. Sie wollte nur noch weg von hier, so weit und so schnell weg, wie sie nur konnte, aber zugleich wurde die Faszination des Verbotenen, Verruchten, das sie gesehen und getan hatte, immer stärker. Sie musste...

... ihre Mutter und Rahn warnen. Sarn und sein Führer konnten nicht mehr allzu weit entfernt sein, und es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis sie Rahn und ihre Mutter hörten. Arri hätte selbst nicht sagen können warum, aber sie wusste einfach, dass es zu einer Katastrophe führen würde, wenn Sarn Lea und den Fischer miteinander sah.

Sie drehte sich vollends herum, und ein eisiger Schauer rann ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass Sarn sie unweigerlich finden musste und dass niemand anderes als sie daran schuld war.

Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Grahl der Spur ihrer Mutter folgen würde. Aber das war gar nicht mehr nötig. In ihrem Bemühen, ihre Mutter möglichst schnell zu finden und zu warnen, war sie vollkommen rücksichtslos durch Gestrüpp und Unterholz gebrochen und hatte ihrerseits eine Fährte hinterlassen, wie sie breiter und auffälliger kaum sein konnte. Der Jäger musste schon blind sein, um die Spur aus zertrampeltem Moos, abgebrochenen Ästen und geknickten Zweigen zu übersehen, die ihren Weg hierher markierte.

Arris Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, wie weit Grahl und der Dorfälteste noch hinter ihr waren, doch es konnte nicht mehr allzu weit sein. Was sollte sie tun?

Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Mutter und Rahn zu warnen. Aber es war tatsächlich nur ihr allererster Gedanke. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Mutter mit der Situation fertig werden würde - und nötigenfalls auch mit Grahl und dem Schamanen -, aber das Allerletzte, was ihre Mutter jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere, offene Konfrontation mit Sarn. Und letzten Endes war sie nicht ganz unschuldig daran, dass es überhaupt so weit gekommen war. Warum hatte sie nicht viel früher reagiert und Sarn und den Jäger aufgehalten oder irgendwie abgelenkt, noch bevor sie überhaupt die Verfolgung ihrer Mutter aufgenommen hatte?

Arri warf einen raschen, fast gequälten Blick über die Schulter auf das Gebüsch zurück, hinter dem noch immer die keuchenden Atemzüge Rahns und ihrer Mutter hörbar waren, dann kam sie zu einem Entschluss. Rasch wandte sie sich um und ging auf ihrer eigenen Spur zurück, die die ihrer Mutter tatsächlich zum größten Teil überdeckte und fast unkenntlich machte.

Sie musste nicht allzu weit gehen. Schon nachdem sie zwei oder drei Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, hörte sie vor sich Geräusche - das Brechen von Zweigen, Schritte auf dem weichen, mit Moos bedeckten federnden Boden und eine gedämpfte, misstönende Stimme, die sie zweifelsfrei als die des Schamanen erkannte. Arri erschrak. Hatte sie so lange dagesessen und ihre Mutter und Rahn beobachtet?

Ihr blieb keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Ein Schatten tauchte vor ihr auf und wurde zu der breitschultrigen Gestalt des Jägers, zu der sich nur einen Augenblick später auch der Schamane gesellte. Arri hätte nicht sagen können, wer von beiden erschrockener war, aber Sarn sah eindeutig zornig aus, kaum, dass er sie erkannt hatte. Abrupt verhielt er mitten im Schritt, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr sie übergangslos an: »Was suchst du hier? Wo ist deine Mutter?«

Es lag Arri auf der Zunge zu antworten, dass ihn das nichts angehe, doch sie beherrschte sich im letzten Moment. Sarn war auch jetzt schon wütend genug, ohne dass sie ihn noch weiter reizen musste.

»Ich suche sie ebenfalls«, antwortete sie, die Überraschte spielend. »Ich dachte, sie wäre hier, aber ich habe sie nicht gefunden.« Sie machte eine Kopfbewegung in den Wald hinter sich und sprach ganz bewusst mit leicht veränderter Stimme weiter; nicht einmal wirklich lauter, aber in jener hellen, durchdringenden Tonlage, vor der ihre Mutter sie eindringlich gewarnt hatte, weil man sie ganz besonders weit hörte, selbst wenn man nicht besonders laut sprach. Wenn ihre Mutter nicht ganz in einem Strudel aus Leidenschaft versunken war, würde sie ihre Stimme hören und entsprechend handeln. Unglückseligerweise war Arri sich in diesem Fall ganz und gar nicht sicher, was ihre Mutter unter entsprechend handeln verstehen würde, wenn sie begriff, dass Sarn und der Jäger ihr nachgeschlichen waren.

Oder auch ihre eigene Tochter...

Doch sie hatte gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen.

»Der Wald wird dort hinten immer dichter«, fuhr sie fort. »Ich hatte Angst, mich zu verirren. Außerdem ist es hier sumpfig.« Sie zögerte einen ganz kurzen, genau berechneten Moment und fuhr mit einem schiefen Lächeln fort: »Und es ist... seltsam hier. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es hier Ungeheuer und böse Geister gibt.«

Sarn zog eine Grimasse. »Ja, das sagt man«, murmelte er. Das misstrauische Funkeln in seinen vom Alter trüb gewordenen Augen legte sich kein bisschen. »Aber wenn es so ist, dann frage ich mich, was deine Mutter hier verloren hat. Es sei denn, sie ist mit diesen bösen Geistern im Bunde.«

Arri lächelte unerschütterlich weiter. Grahl sagte gar nichts, aber sein Blick tastete aufmerksamer und misstrauisch das Dunkel hinter ihr ab. »Sie wollte in den Wald gehen, um Kräuter zu suchen«, sagte sie. »Es sind eine Menge Verletzter zu versorgen, und sie muss neue Medizin herstellen.«