»Rahn«, unterbrach Arri sie scharf, »wird kaum Zeit haben, um die Schmiede wieder aufzubauen. Er ist voll und ganz damit beschäftigt, den ganzen Tag lang hinter mir herzuschnüffeln. Sollte er sich nicht besser um seine schuppigen Brüder und Schwestern kümmern, die sich in der Zella tummeln?«
»Rahn schnüffelt dir nicht hinterher«, antwortete Lea sanft. »Ich habe ihn gebeten, auf dich aufzupassen, wenn ich nicht da bin.«
»Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst«, protestierte Arri. Es gelang ihr einfach nicht, ihre Mutter aus der Ruhe zu bringen, und das machte sie noch wütender.
»Ich weiß«, gab Lea zu. »Aber vielleicht brauche ich jemanden, der mir Rahn vom Leib hält. Wenigstens dann und wann.«
Ja, und ich kann mir auch denken, warum, dachte Arri böse. Sie behielt diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber ihre Mutter schien trotzdem zu spüren, dass sie aus diesen Worten etwas anderes heraushörte als das, was sie eigentlich gemeint hatte, denn ihr Stirnrunzeln vertiefte sich noch, und sie trat vollends aus der Tür heraus und hob die Hand, um sie an der Schulter zu berühren.
Arri prallte einen halben Schritt zurück. Sie wusste selbst nicht, warum sie das getan hatte, aber ihr Herz klopfte, und ihre Hände zitterten plötzlich so stark, dass sie sie zu Fäusten ballen musste, um es zu verbergen.
»Was ist los mit dir, Liebling?« Lea ließ den Arm wieder sinken, aber ihre Stimme wurde hörbar sanfter, und aus dem ungeduldigen Zorn auf ihrem Gesicht wurden Betroffenheit und Sorge. »Stimmt etwas nicht?«
Ob etwas nicht stimmte? Wäre Arri nicht schier zum Heulen zumute gewesen, sie hätte vermutlich laut aufgelacht. Nichts stimmte mehr. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, und das gründlicher und schneller, als sie es sich vor wenigen Tagen auch nur hätte vorstellen können.
Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Sie war nicht die, für die sie sich gehalten hatte. Ihre Zukunft - das ganze Leben, das noch vor ihr lag - würde vollkommen anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Ihre Mutter war nicht die, für die sie sie gehalten hatte. Nichts von dem war vielleicht jemals so gewesen, wie sie geglaubt hatte, aber das war ihr einerlei, und es war ihr in diesem Moment auch vollkommen gleichgültig, ob sie etwas daran ändern konnte oder nicht. Sie wollte ihr altes Leben wieder haben, und sie wollte vor allem ihre alte Mutter wieder haben. Sie war doch alles, was sie überhaupt besaß!
»Ich verstehe dich so gut, mein armer Liebling«, fuhr Lea nach einer Weile fort, noch immer in diesem sonderbar sanften Ton, der Arri immer wütender machte, obwohl sie nicht einmal wusste, warum. Sie setzte erneut dazu an, die Hand nach ihr auszustrecken, brach die Bewegung aber dann schon im Ansatz ab, vielleicht, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, abermals ausweichen zu müssen. Ein Ausdruck vager Trauer erschien jetzt auf ihrem Gesicht.
»Ich wollte, ich könnte dir helfen, aber das kann ich nicht«, fuhr sie fort. »Das ist etwas, was du ganz allein durchstehen musst.«
»Was?«, fragte Arri. Die Feindseligkeit in ihrer Stimme erschreckte sie selbst, auch wenn sie allmählich begriff, dass dieses aus Hilflosigkeit geborene Gefühl in viel stärkerem Maße ihr selbst galt als ihrer Mutter. Sie war zornig, wütend wie noch nie zuvor in ihrem Leben, und sie wusste nicht einmal warum oder gar worauf.
»Die Zeit, die jetzt vor dir liegt«, antwortete ihre Mutter. »Es ist eine Zeit der Veränderungen, für dich in viel stärkerem Maße als für mich.« Arri sah ihre Mutter völlig verständnislos an, und Lea fuhr fort: »Du hast es mir vielleicht noch nicht verziehen, aber indem ich behauptet habe, du seist zwei Jahre jünger als du wirklich bist, habe ich dir diese zwei Jahre geschenkt. Jetzt ist diese Schonfrist abgelaufen. Künftig wirst du als eine Erwachsene behandelt werden, ob du das nun möchtest oder nicht.«
»Ich wusste nicht, was sich dadurch ändern sollte!«
Lea lächelte leicht und auf eine Weise, die Arris Trotz vollends entfachte. »Du wirst anfangen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Du hast schon damit angefangen, habe ich Recht? Plötzlich ist alles anders, und du verstehst das nicht. Du beginnst zu zweifeln, an allem und jedem, sogar an mir. Vielleicht wirst du mich sogar hassen, für eine gewisse Zeit. Das ist vollkommen in Ordnung - so lange du die Grenzen des Anstands dabei nicht überschreitest.«
»Und wenn ich das nicht will?«
»Auch das ist ganz in Ordnung«, erwiderte ihre Mutter sanft. »Jeder fürchtet sich vor einer Veränderung, weil es leichter ist, an dem festzuhalten, was man kennt, statt sich dem Neuen zu stellen. Aber es geht nicht. Du kannst die Zeit nicht festhalten, ganz gleich, wie sehr du es auch versuchst.«
Sie kam nun doch näher, legte den Arm um Arris Schultern und drückte sie sanft an sich. Im allerersten Moment versteifte sich Arri unter ihrer Berührung, denn sie war ihr fast schon unangenehm. Um ein Haar hätte sie den Arm ihrer Mutter abgeschüttelt, auch wenn ihr klar war, wie sehr sie sie damit verletzen musste. Aber dann erinnerte sie sich, dass diese Berührung nicht unangenehm sein sollte; ganz im Gegenteil.
Die Umarmungen ihrer Mutter waren immer etwas ganz Besonderes für sie gewesen; vielleicht gerade, weil sie so selten waren und dadurch zu einem kostbaren Gut wurden, das sie möglichst lange festzuhalten trachtete. Obwohl ihr klar war, dass es nicht stimmen konnte, meinte sie sich an jede einzelne davon zu erinnern: Augenblicke voller köstlicher Wärme, in denen sie sich geborgen und sicher gefühlt hatte wie sonst niemals und von denen sie sich gewünscht hatte, sie mochten niemals enden.
»Das alles ist jetzt neu und verwirrend für dich«, fuhr Lea fort, »und es muss dich erschrecken, aber es ist nun einmal der Lauf der Natur. Keiner von uns hat die Macht, sie zu ändern.«
»Dann ist es dir... auch so ergangen?«, fragte Arri zögernd. Sie wusste nicht, warum, aber während sie diese Worte aussprach, schienen sie wiederum das Bild vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören, das sie am Nachmittag gesehen hatte: ihre Mutter, deren Beine den Leib des Mannes umklammerten, den sie für Rahn gehalten hatte, während sich ihre Fingernägel in seinen Rücken gruben und sie stöhnend den Kopf hin und her warf. Diesmal war ihr die Erinnerung nicht peinlich, sie fand die bloße Vorstellung abstoßend; als wäre das, was sie bei so vielen anderen mehr oder auch weniger heimlich beobachtet hatte, etwas vollkommen anderes und Unnatürliches, nur weil ihre Mutter es tat.
Lea lachte leise, bevor sie antwortete, als hätte sie eine ganz besonders naive Frage gestellt, aber es war nichts Verletzendes oder gar Abfälliges an diesem Lachen. »Natürlich. Jedermann macht es durch, auf die eine oder andere Weise.«
»Und wie... wie bist du damit umgegangen?«, fragte sie zögernd.
Diesmal verging spürbar etwas Zeit, bevor Lea antwortete, und ihre Stimme nahm einen sonderbaren, fast melancholischen Klang an. »Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch erinnere. Ich glaube, ich war ziemlich unausstehlich, damals.«
»Also so wie heute?«, neckte sie Arri.
»Schlimmer«, antwortete Lea ernst. »Ich glaube, es gab ein paar Jahre, in denen ich meine ganze Umgebung fast in den Wahnsinn getrieben habe.« Sie entfernte sich mit langsamen Schritten von der Hütte, und da ihr Arm noch immer auf Arris Schulter lag, musste diese der Bewegung folgen, ob sie nun wollte oder nicht. »Aber ich fürchte, nicht das ist unser Problem. Es sieht eher so aus, als würden wir beide zusammen Sarn in den Wahnsinn treiben. Denn ob er will oder nicht - wir werden einen Weg finden, um bis zum Frühjahr hier zu bleiben, das verspreche ich dir.«
Während der nächsten beiden Tage geschah genau das, was Arri erwartet hatte: nämlich gar nichts. Ihre Mutter ging noch zwei- oder dreimal in den Wald, ohne sich die Mühe zu machen, sie über ihre Ziele aufzuklären oder ihr auch nur zu sagen, wann sie zurückkommen würde, und Arri ergab sich nach anfänglichem Murren in ihr Schicksal, das im Großen und Ganzen darin bestand, in der Hütte zu bleiben und Achks Beschimpfungen und Willkürlichkeiten zu ertragen.