»Sie hat es mir gesagt.«
»Was?«, erkundigte sich Arri feindselig. »Dass du mich wie eine Gefangene behandeln sollst oder wie ein kleines Kind?«
»Wie ich dich behandele«, antwortete Rahn ruhig, »liegt ganz bei dir. Ich werde einfach so mit dir umgehen, wie du es verdienst.« Er schwieg einen ganz kurzen Augenblick. »Im Moment benimmst du dich wie ein störrisches kleines Kind. Also werde ich dich auch ganz genau so behandeln.«
Arri schluckte die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag, vorsichtshalber herunter. Auch wenn sie es nie für möglich gehalten hätte, so war ihr Rahn zumindest im Moment eindeutig überlegen, auch mit Worten. Sie fragte sich, ob sie den Fischer in der Vergangenheit tatsächlich so völlig falsch eingeschätzt hatte oder ob es vielleicht der Einfluss ihrer Mutter war, den sie spürte. Nicht, dass diese sonderbare Veränderung Rahn auch nur im Geringsten sympathischer gemacht hätte, ganz im Gegenteil. Bisher war er für sie nicht mehr als ein großer, schrecklich starker, aber dummer Tölpel gewesen, den sie im Grunde nach Belieben herumschubsen und beleidigen konnte, ohne dass er es die meiste Zeit auch nur gemerkt hatte. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht vielleicht doch ein bisschen anders gewesen war. Was, wenn Rahn während der ganzen Zeit, in der sie mit ihm zu spielen geglaubt hatte, seinerseits sein Spiel mit ihr gespielt und nur auf den Augenblick gewartet hatte, um es ihr heimzuzahlen?
Und welchen besseren Augenblick konnte es geben als den, in dem sie vier oder fünf oder vielleicht auch noch mehr Tage ganz allein mit ihm war?
»Und wenn ich dir einfach befehle, mir zu sagen, wohin meine Mutter gegangen ist, und mich zu ihr zu bringen?«, fragte sie trotzig.
Rahn lachte. »Deine Mutter hat mich schon davor gewarnt, dass du versuchen würdest, mir auf der Nase herumzutanzen. Aber keine Sorge: Damit kommst du bei mir nicht durch, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Ohren schlackerst.«
Arri blieb stehen und drehte sich mit einer ärgerlichen Bewegung zu ihm herum. »Ich könnte meiner Mutter erzählen, dass du aufdringlich geworden wärst. Wie würde dir das gefallen?«
Rahn schüttelte fast gelassen den Kopf, was ihrem Zorn neue Nahrung gab. »Nicht besonders«, gestand er, machte dabei aber ein Gesicht, das diesen Worten jegliche Glaubwürdigkeit nahm. »Aber du scheinst deine Mutter zu unterschätzen. Sie ist eine sehr kluge Frau und hat genau das vorausgesehen, weißt du? Und sie weiß auch, dass ich nicht so dumm bin, wie du immer behauptest.« Er machte einen Schritt nach hinten, um sie abermals auf diese durchdringende und nicht anders als anzügliche Art von Kopf bis Fuß zu mustern, wobei sich auf seinem Gesicht schon wieder dasselbe breite Grinsen bemerkbar machte. Sein Blick tastete auf eine vollkommen... neue, unangenehme Weise nicht nur über ihr Gesicht, sondern über ihre Schultern, ihre Arme und blieb eindeutig länger als notwendig an ihrem Oberkörper hängen.
Ganz kurz blitzte eine Erinnerung vor Arris geistigem Auge auf: Sie sah ihre Mutter, die auf dem weichen Mooskissen im Wald lag und die Beine um den dunkelhaarigen Fremden geschlungen hatte, und diese Erinnerung, so kurz sie auch währen mochte, machte Rahns Blick eindeutig zu etwas Schmutzigem, das sie zugleich mit einem vollkommen unsinnigen, aber heftigen Gefühl schlechten Gewissens erfüllte. Nur mit Mühe konnte sie den Impuls unterdrücken, die Arme vor der Brust zu verschränken.
»Du bist ein hübsches Ding«, fuhr Rahn fort. »Und ich bin bestimmt nicht der Einzige im Dorf, der das bemerkt hat. Aber so hübsch, dass ich deinetwegen mein Leben aufs Spiel setzen würde, nun auch wieder nicht.«
»Was soll das heißen?«, schnappte Arri.
Rahn grinste unerschütterlich weiter, aber irgendwie gelang es ihm trotzdem, zugleich mit einem Male sehr ernst zu wirken. »Weil deine Mutter mich töten würde, hätte sie auch nur den Verdacht, dass ich dich angerührt hätte.« Dann wurde sein Grinsen boshaft. »Außerdem - warum soll ich ein Kind nehmen, wenn ich die Frau haben kann? Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, das ist wahr, aber bis du an sie heranreichst, vergeht noch eine Weile.«
Arri musste all ihre Willenskraft aufbieten, um sich nicht einfach auf ihn zu stürzen. Seine letzte Bemerkung erinnerte sie wieder daran, wie sie ihn zusammen mit ihrer Mutter gesehen hatte, und die Bilder, die aus ihrer Erinnerung aufstiegen, machten aus der bloßen Anzüglichkeit seiner Worte etwas Schlimmeres, für das sie keine wirkliche Bezeichnung fand. Hätte sie in diesem Augenblick eine Waffe gehabt, hätte sie ihn angegriffen.
Und Rahn schien wohl auch zu spüren, dass er einen Schritt zu weit gegangen war, denn er versuchte - wenn auch vergeblich -, besänftigend zu lächeln, und fügte in verändertem Ton hinzu: »Aber dieses Gespräch ist ohnehin überflüssig. Ich könnte dich gar nicht zu deiner Mutter bringen, selbst wenn ich es wollte.«
Arri glaubte ihm kein Wort, fragte aber trotzdem: »Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wohin sie will«, erwiderte Rahn. »Sie hat es mir nicht gesagt. Ich habe ihr ja noch abgeraten, ausgerechnet jetzt zu gehen, wo wir bald das Jagd-Ernte-Fest feiern werden und Sarn alles daran setzen wird, um die alten Götter im Steinkreis um Hilfe anzuflehen - und ganz nebenbei ein paar Boshaftigkeiten über deine Mutter loszulassen, gegen die sie sich dann nicht wehren kann. Aber sie hat behauptet, sie wäre rechtzeitig zurück, um Sarn in seine Schranken zu verweisen.«
»Du lügst doch!«, behauptete Arri. »Du behauptest, ausführlich mit meiner Mutter über den Zeitpunkt ihrer Reise gesprochen zu haben - und willst dann nicht wissen, wohin sie gegangen ist? Warum sollte dir meine Mutter das verschweigen?«
»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie es dir nicht gesagt hat?«, schlug Rahn vor. »Oder vielleicht auch, damit ich es niemandem verraten kann.«
Für einen Moment war Arri einfach nur verwirrt. Rahns Behauptung erschien ihr vollkommen unsinnig; nichts anderes als eine Ausrede, aber zugleich glaubte sie auch zu spüren, dass er die Wahrheit sagte. Dennoch erwiderte sie nach einem Moment und mit einem trotzigen Kopfschütteln: »Unsinn. Mir hat sie gesagt, dass sie weggeht, um Ersatz für das verlorene Werkzeug und neues Erz zu holen. Du warst schon einmal zu demselben Zweck fort. Du kennst also den Weg.«
»Wenn es so ist, dann muss sie wohl ihre Zauberkräfte bemühen, um mit einer Ladung Erz und anderen Dingen hierher zurückzukommen«, erwiderte Rahn.
»Was soll das heißen?«
Rahn hob die Schultern. »Es ist wahr, ich war im nächsten Dorf, um dort Vorräte und einige andere Dinge einzutauschen, nach denen deine Mutter mich geschickt hat. Aber ich habe den Ochsenkarren genommen und bin den Umweg über die Feuchtwiesen gefahren, immer gefährlich nah am Sumpf, denn nur dort kommt man überhaupt mit einem Wagen durch. Doch selbst der Wagen hätte kaum ausgereicht, um all die Dinge zu transportieren, die deine Mutter braucht, um eine vollkommen neue Schmiede für Achk einzurichten.«
»Und?«, fragte Arri verwirrt. »Glaubst du, sie wäre nicht in der Lage, einen Ochsenkarren zu lenken? Sie hat es doch immerhin auch geschafft, dir ihren Willen aufzuzwingen.«
Rahn nahm die Beleidigung hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wahrscheinlich schon«, räumte er ein, »aber dazu hätte sie ihn auch mitnehmen müssen, meinst du nicht?«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, murmelte Arri verwirrt.
»Sie hat den Wagen nicht genommen«, antwortete Rahn, »also können wir auch schwerlich seiner Spur folgen.«
»Sie hat den Wagen...«
»... nicht angerührt, natürlich auch, weil sie Sarn vorher um Erlaubnis hätte bitten müssen.« Rahns Augen funkelten belustigt. »Sarn hätte es ihr niemals erlaubt, und ich glaube auch nicht, dass sie so leichtsinnig wäre, ein Gefährt zu benutzen, dessen Spuren man so einfach folgen kann.«