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Diesmal schwieg Arri eine ganze Weile. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie weggehen würde, um alles zu beschaffen, was nötig war, um Achks niedergebrannte Schmiedewerkstatt wieder aufzubauen, und sie glaubte nicht, dass sie sie belogen hatte. Welchen Grund sollte sie dafür haben?

»Warum schließen wir nicht Frieden?«, fragte Rahn. »Wenigstens für die Zeit, bis deine Mutter zurück ist?«

Arri war für einen Moment hin- und hergerissen. Rahns Angebot klang nicht nur verlockend, es klang ehrlich, auch wenn es ihr nicht behagte, das zuzugeben, und vielleicht würde sie es später annehmen, aber noch war sie nicht bereit dazu. Sie beließ es bei einem feindseligen Blick in sein Gesicht, drehte sich mit einem Ruck um und ging mit trotzig in den Nacken geworfenem Kopf auf die Stiege zu. Ihre Gedanken kreisten um das, was Rahn gesagt hatte. Der Ochsenkarren, von dem er gesprochen hatte, war der einzige, den es im ganzen Dorf gab, das einzige Transportmittel, das groß genug war, um mehr als einen Ballen Heu oder zwei große Wasserkrüge damit von der Stelle zu bewegen. Wenn Lea ihn nicht genommen hatte, wie wollte sie dann all die Dinge hierher schaffen, von denen sie gesprochen hatte?

Falls sie es überhaupt wollte.

Arri schrak noch immer vor dem bloßen Gedanken zurück - aber was, wenn ihre Mutter tatsächlich nicht die Wahrheit gesagt hatte? Wenn sie nicht fortgegangen war, um Material und Werkzeug für Kron und den Blinden zu holen, sondern aus einem ganz anderen Grund?

Was, wenn sie nicht wiederkommen würde, weil sie nur für sich allein eine Bleibe für den Winter suchte?

Dieser Gedanke war so erschreckend, dass Arri ihn hastig von sich schob, oder es doch wenigstens versuchte. Aber es gelang ihr nicht ganz. Er war wie ein schleichendes Gift, mit dem sie sich einmal infiziert hatte und das nun seine Wirkung entfaltete, langsam, aber auch unaufhaltsam. Wenn ihre Mutter in diesem einen Punkt die Unwahrheit gesagt hatte, wieso dann auch nicht in einem anderen? Und schließlich hatte sie ihre Unsicherheit und Verwirrung selbst gespürt, vorhin noch, als Lea sich von ihr verabschiedet hatte.

Noch bevor sie die Stiege erreichte, kam sie zu einem Entschluss. Sie würde das tun, was sie von Anfang an hätte tun sollen, nämlich, ihren Befehl missachten und ihr folgen. Zu Fuß konnte ihre Mutter nicht sehr viel schneller vorankommen als sie selbst, wenn sie sich beeilte, und sie hatte in den letzten Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, ihrer Tochter all ihre Fähigkeiten und Kenntnisse beizubringen, zu denen auch ein Geschick im Spurenlesen gehörte, das dem Grahls und der anderen Jäger gleichkam. Spätestens wenn die Sonne aufging, würde sie ihre Spur finden. Sie musste nur Rahn loswerden, und als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte und ihr ein besonders lautes, grunzendes Schnarchgeräusch aus der Hütte entgegendrang, wusste sie auch, wie.

Statt sich umzudrehen und dem Fischer mit ein paar energischen Worten nachhaltig zu verbieten, der Hütte auch nur nahe zu kommen - wozu sie eben noch fest entschlossen gewesen war -, eilte sie die wenigen Stufen hinauf, blieb unter der Tür stehen und winkte ihm im Gegenteil zu, ihr zu folgen. Rahns Gesicht lag im Schatten des Hauses, aber sie spürte seine Überraschung und sah auch, dass er einen Moment zögerte, ihr dann aber mit umso energischeren Schritten nachkam. Arri dachte vorsichtshalber erst gar nicht darüber nach, was jetzt in seinem Kopf vorgehen mochte; aber was immer es auch war, er würde gleich eine ziemlich unangenehme Überraschung erleben.

»Bring einen Krug Wasser mit«, rief sie ihm zu. »Ich mache uns ein Frühstück. Es ist noch etwas kaltes Fleisch von gestern Abend da.«

Sie wartete nicht ab, ob Rahn ihrer Bitte nachkam oder nicht, sondern schlug den Vorhang bewusst grob zur Seite und schlich auch nicht auf Zehenspitzen ins Haus, so wie sie es vorhin verlassen hatte, sondern trampelte regelrecht hinein. Achk warf sich betont auffällig auf seinem Lager herum und ließ einen einzelnen, fast explosiven Schnarcher hören, aber sie spürte, dass er nicht echt war. Der Schmied war wach; das war er schon gewesen, als sie hereingekommen war.

Arri polterte weiter nach Kräften herum, und Achk tat weiter sein Bestes, um den Schlafenden zu spielen, während sie Feuerholz und Späne holte und mit geschickten Bewegungen die Lampe anzündete. Als Rahn, einen langsam, aber beständig leckenden Krug in beiden Händen tragend, gebückt durch die Tür trat, war der Raum vom milden, gleichmäßig gelb brennenden Schein der Öllampe erhellt. Rahn maß die kaum fingergroße Flamme mit einem unruhigen Blick, während er seine Last zum anderen Ende des Raumes trug und ebenso behutsam wie ungeschickt abstellte. Arri kommentierte sein Ungeschick mit einem spöttischen Lächeln, gab sich aber alle Mühe, es wie etwas anderes aussehen zu lassen, und es funktionierte, denn in den Augen des Fischers erschien ein überraschter Ausdruck.

Wie die allermeisten im Dorf benutzte Rahn keine Öllampen, um seine Hütte zu beleuchten, sondern - wenn überhaupt - ein qualmendes Feuer, das mehr Rauch als Licht verbreitete und im Sommer darüber hinaus unerträgliche Hitze. Es war Arri ein Rätsel, wieso das Dorf nicht regelmäßig drei oder vier Mal im Jahr abbrannte, bei all den offenen Feuerstellen, die es in den aus Holz, Weidengeflecht und Schilf gebauten Hütten gab, und wieso sich der Großteil seiner Einwohner nach wie vor beharrlich weigerte, die viel sichereren und vor allem leichter zu handhabenden Öllampen zu verwenden. Aber es gab so viele Rätsel in diesem Dorf, dass sie schon längst damit aufgehört hatte, sich wirklich den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht fing sie auch gerade erst damit an.

Sie hantierte noch eine Weile an der Lampe herum, wobei sie Rahn ein freundliches Lächeln schenkte, als er in ihre Richtung sah, dann stand sie auf und ging zu dem kleinen Schemel neben der Tür, auf dem tatsächlich noch die Reste der letzten Mahlzeit standen. Es waren kaum mehr als ein paar kümmerliche Reste, nicht einmal wirklich der Rede wert, sie zu essen, aber dieser eine Blick und ihre ganz bewusst nicht vollkommen natürlich wirkende Bewegung schienen Rahn vollkommen ausgereicht zu haben, um zu begreifen, dass sie ihn nicht hereingebeten hatte, um zusammen mit ihm zu essen. Sie sah nicht in seine Richtung, doch sie meinte seine Blicke zu spüren, wie die Berührung einer warmen, unangenehmen Hand, die ihren Rücken hinabstrich, über ihre Schenkel und Waden tastete und dann wieder hinauf. Ein sonderbares Gefühl breitete sich in ihr aus, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was es auch war, das sie in letzter Zeit immer öfter und immer heftiger empfand, jetzt war nicht der Moment, darüber nachzudenken oder gar dieser sonderbaren Neugier nachzugeben.

Bewusst langsam drehte sie sich um, hielt den Teller mit den kümmerlichen Essensresten in beiden Händen und machte ein verlegendes Gesicht, aber nicht nur. Sie hatte zwar keinerlei Übung in solchen Dingen, hoffte aber, dass dieses ganz bestimmte, angedeutete Lächeln, das sie in ihr entschuldigendes Achselzucken einfließen ließ, Rahn ganz genau das denken ließ, was er denken sollte, und allem Anschein nach erreichte sie ihr Zieclass="underline" Er sah die Schale in ihren Händen nicht einmal wirklich an, sondern ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Matratze nieder, und aus der Verwirrung und Überraschung und - ja, auch der Spur von Misstrauen - in seinen Augen wurde etwas anderes. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Arri schüttelte rasch den Kopf und warf einen warnenden Blick auf den scheinbar schlafenden Schmied. »Wir müssen leise sein.«

Rahn machte ein abfälliges Geräusch und eine ebensolche Handbewegung. »Er schläft wie ein Stein«, antwortete er, allerdings im gleichen, fast flüsternden Tonfall, in dem auch Arri gesprochen hatte. Der Anteil von Misstrauen in seinem Blick war nun vollkommen erloschen, wie Arri zufrieden feststellte, und nun machte sich wieder jenes anzügliche Grinsen auf seinen Lippen breit, das es Arri immer schwerer machte, nicht einfach die Schale zu nehmen und sie ihm ins Gesicht zu werfen.