Arris Gedanken rasten. Der Waldrand war noch ein Dutzend Schritte entfernt, doch wenn sie ihn erreichte, dann wäre sie im Vorteil. Rahn mochte schneller und auch stärker sein als sie, aber sie kannte sich dort drinnen ungleich besser aus als er. Hier draußen würde die Morgendämmerung bald ihre Kraft entfalten, im Wald selbst aber herrschte noch immer vollkommene Finsternis, die ihr Schutz gewähren würde. Sie hatte ihr ganzes Leben an diesem Wald verbracht und kannte zumindest in einigem Umkreis jeden Baum, jeden Strauch und jede Wurzel.
Aber sie begriff auch, dass sie es bis dahin nicht schaffen würde.
Als sie spürte, dass Rahn nur noch zwei Schritte hinter ihr war, schlug sie einen Haken, ließ sich blitzschnell auf Hände und Knie herabfallen und krümmte den Rücken. Rahn prallte wunschgemäß in vollem Lauf gegen sie, rammte ihr dabei, ganz und gar nicht wunschgemäß, das Knie in die Rippen und schrie vor Wut auf, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, in hohem Bogen durch die Luft flog und eine gute Mannslänge entfernt und mit solcher Wucht auf den Boden aufprallte, dass der ganze Wald zu beben schien.
Sein Aufprall hatte nicht nur Arri die Luft aus den Lungen gepresst, sondern sie ebenfalls zu Boden geschleudert. Hilflos rollte sie herum, kam endlich auf dem Rücken zu liegen und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, für den sie wahrscheinlich gar keine Luft gehabt hätte. Zu dem wütenden Pochen in ihrem rechten Knöchel hatte sich nun ein fast noch schlimmerer Schmerz in ihrem Rücken gesellt, und jeder Atemzug wurde von einem dünnen, aber tief gehenden Stich begleitet, der ihr verriet, dass ihr Rahns Knie mindestens eine Rippe gebrochen hatte, wenn nicht mehr. Trotzdem biss sie die Zähne zusammen, arbeitete sich auf die Ellbogen hoch und drehte mit einem Ruck den Kopf, um nach Rahn Ausschau zu halten.
Dem Fischer war es nicht besser ergangen als ihr. Er lag ein gutes Stück von ihr entfernt da und schien Mühe zu haben, sich hochzustemmen. Aber er lag zwischen ihr und dem rettenden Waldrand, und er arbeitete sich zwar taumelnd und unsicher und eindeutig benommen hoch, aber er kam hoch, und das sogar schneller als sie. Während sich Arri noch auf die Füße stemmte, vorsichtig nur den linken Fuß belastend und eine Hand mit zusammengebissenen Zähnen gegen ihre Rippen gepresst, stand er auf, schüttelte zwei oder drei Mal abgehackt den Kopf und fuhr sich schließlich mit der linken Hand über das Gesicht. In dem Blick, der Arri danach traf, loderte nichts als blanke Mordlust.
»Das war nicht besonders lustig«, sagte er.
Arris Blick tastete fast verzweifelt über den Waldrand und suchte nach irgendeinem Fluchtweg, aber da war keiner. Hinter ihr lagen nur der dunkle Schatten der Hütte und der ihr plötzlich unendlich lang erscheinende und steil ansteigende Weg zum Dorf hinauf, und selbst, wenn es dort oben jemanden gegeben hätte, der ihr helfen konnte, wäre sie mit ihrem verstauchten Knöchel niemals so weit gekommen. Obwohl es ihr heftige Schmerzen bereitete, machte sie zwei Schritte zurück, ohne dabei zu humpeln, und hob beide Arme vor die Brust, die Finger ausgestreckt und die Handflächen nach außen gedreht. »Komm mir nicht zu nahe«, drohte sie.
»Oder was?«, fragte Rahn.
»Ich warne dich«, wiederholte Arri. »Meine Mutter hat mir gezeigt, wie ich mich wehren kann.«
»Anscheinend hat dir deine Mutter eine ganze Menge gezeigt«, bestätigte Rahn mit finsterem Gesicht. Seine Hände tasteten an seinem Körper entlang, als wollte er sich davon überzeugen, dass noch alles unversehrt und einigermaßen an seinem Platz war, dann schüttelte er den Kopf und bedachte sie erneut mit einem wütenden Blick. Sonderbarerweise verzichtete er aber darauf, sich sofort auf sie zu stürzen, womit Arri fest gerechnet hatte. Stattdessen fragte er: »Was sollte das? Ist das irgendein verrücktes Spiel, das dir deine Mutter beigebracht hat?«
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, und Arri prallte hastig um die gleiche Distanz zurück und sagte noch einmaclass="underline" »Komm nicht näher.«
Wieder reagierte Rahn völlig anders, als sie erwartet hatte. Er machte tatsächlich noch einen weiteren Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt eher verstört als wütend. Vielleicht nachdenklich. »Was soll denn dieser Unsinn?«, schnappte er.
»Ich werde jetzt gehen«, antwortete Arri. »Ich werde meine Mutter schon finden, auch ohne deine Hilfe.«
Rahn reagierte einige Augenblicke lang gar nicht, dann machte er einen weiteren, einzelnen Schritt in ihre Richtung und sagte in fast bedauerndem Tonfalclass="underline" »Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann. Deine Mutter hat mir...«
»Meine Mutter wird dich umbringen, wenn ich ihr erzähle, was du getan hast«, fiel ihm Arri ins Wort. Ihre Stimme klang dabei nicht annähernd so überzeugt, wie sie es gern gehabt hätte, und auch ihre Hände zitterten immer heftiger, so stark, dass Rahn es einfach sehen musste, aber sie bezweifelte trotzdem, dass er es bemerkte. Auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von allmählich aufdämmernder Erkenntnis, aber unendlich viel größerer Verblüffung breit.
»Was habe ich denn getan?«, murmelte er.
Konnte es sein, dass er tatsächlich nicht begriff?, fragte sich Arri verwirrt. Egal. »Ich werde ihr erzählen, dass du versucht hast, mich anzufassen. Du weißt, was sie dann mit dir macht.«
Und endlich begriff Rahn. Sein Gesicht verdüsterte sich, und in seinen Augen blitzte purer Hass auf. »Sie würde dir kein Wort glauben«, sagte er, aber er klang dabei nicht sehr überzeugt.
»Das braucht sie auch nicht«, erwiderte Arri. »Achk hat alles gehört. Er hat nicht geschlafen.« Sie machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. »Geh hinauf in die Hütte und frag ihn, wenn du willst.«
Für eine geraume Weile stand Rahn einfach nur da und starrte sie an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und Arri konnte sehen, wie sich seine gewaltigen Muskeln spannten, doch dann ließ er die Arme wieder sinken und schüttelte abermals den Kopf. Er gab sich redliche Mühe, ein verächtliches Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, auch wenn es ihm nicht gelang. »Das würdest du nicht wagen. Und deine Mutter würde dir auch nicht glauben. Sie kennt mich. Sie vertraut mir.«
»Ja, deswegen hat sie dir ja auch gesagt, dass sie dich umbringt, wenn du mich auch nur anrührst«, erwiderte Arri. Ihre Gedanken rasten noch immer. Sie spürte, nein, sie konnte sehen, wie es hinter Rahns Stirn arbeitete, und ihr war klar, dass sie dieses Spiel nicht endlos weiter treiben konnte. Ihre Worte hatten ihn wütend gemacht, aber auch verunsichert, und sie musste die Gelegenheit ausnutzen.
»Wenn du mich gehen lässt, sage ich nichts. Das verspreche ich. Aber wenn nicht....« Sie ließ den Satz absichtlich unbeendet, und vielleicht war das das Falscheste, was sie hatte tun können. Rahn war kein Mann, den man mit unausgesprochenen Drohungen beeindrucken konnte. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, ihn wütend zu machen. Sie konnte regelrecht mit ansehen, wie seine Unsicherheit erneut blanker Wut wich.
»Du verdammtes, kleines Biest! Du glaubst wirklich, mich erpressen zu können? Damit?«
»Ich gehe jetzt«, erwiderte Arri ungerührt. »Wenn du mich aufhalten willst, versuch es ruhig. Selbst wenn du es schaffst, wird sich meine Mutter ihren Teil dabei denken, wenn sie zurückkommt und ich grün und blau geschlagen bin.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Rahn und stürzte sich auf sie.