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»Woher kommen diese Pferde?«, fragte sie.

Ihre Mutter sah nicht einmal in ihre Richtung, geschweige denn, dass sie geantwortet hätte, sondern fuhr wortlos fort, das Geschirr zu überprüfen.

»Sie gehören nicht zu Nachtwind und seiner Herde, habe ich Recht?«, bohrte Arri weiter. Auch jetzt schien es im allerersten Moment so, als wolle Lea einfach nur weiter beharrlich schweigen, dann aber deutete sie zumindest ein Kopfschütteln an und rang sich zu einem einsilbigen »Nein« durch.

»Dann gibt es noch mehr als diese eine Herde?«, fragte sie.

Ihre Mutter war endlich fertig damit, den festen Sitz des Geschirrs zu überprüfen. Sie ging in weitem Bogen um den Wagen herum, tätschelte im Vorbeigehen die Nüstern eines der Tiere, was dieses mit einem zufriedenen Schnauben quittierte, und stieg dann mit einer raschen Bewegung auf die schmale Sitzbank am vorderen Ende des Gefährts. »Sie gehören Dragosz«, antwortete sie mit einiger Verspätung und in unwilligem Ton auf Arris Frage. Zugleich machte sie eine knappe Handbewegung auf den freien Platz neben sich.

»Dragosz?«, wiederholte Arri, während sie gehorsam zu ihrer Mutter hinaufkletterte. Immerhin wusste sie jetzt schon seinen Namen. Er klang sonderbar, fand sie. Ganz anders als die Namen der Männer aus dem Dorf. Aber wenn sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern, dann musste sie zugeben, dass er auch irgendwie sonderbar ausgesehen hatte, wenngleich sie nicht in der Lage war, diesen Unterschied genau in Worte zu fassen.

»Und wer ist er?«, fragte sie.

Ihre Mutter warf einen langen, aufmerksamen Blick in die Runde, vielleicht, weil sie sich überzeugen wollte, dass sie nichts vergessen oder zurückgelassen hatte, eher aber wohl, weil sie nach jemand ganz Bestimmten Ausschau hielt... Arris Augen schweiften aufmerksam über das nahe Unterholz, und dann setzte sich der Wagen auch schon mit einem sanften Ruck in Bewegung und riss sie aus ihren aufgewühlten Gedanken.

»Jemand, den du nicht kennst. Und den du auch nicht kennen gelernt hättest, wenn es nach mir ginge. Wenigstens jetzt noch nicht.«

»Aber...«, begann Arri, aber Lea unterbrach sie sofort und in unwilligem Ton. »Schweig jetzt«, sagte sie. »Ich will jetzt nicht reden. Wir haben noch Zeit genug dazu. Wir haben einen langen Weg vor uns.«

17

Bis spät in den Nachmittag hinein fuhren sie in gemäßigtem, aber gleichmäßigem Tempo nach Osten, ohne dass ihre Mutter auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Auch ihr Gesicht blieb während der ganzen Zeit vollkommen ausdruckslos und starr. Arri warf ihr dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu - der Lea natürlich nicht verborgen belieb -, verfiel aber darüber hinaus in dasselbe verstockte Schweigen wie sie. Ihre Mutter war immer noch übelster Laune, das spürte sie trotz der vollkommenen Ausdruckslosigkeit, die sie wie eine Maske über ihr Gesicht gestülpt hatte. Aber es war nicht nur Zorn oder der Ärger über ihren Ungehorsam, der sie zwang, ihre Pläne so überstürzt zu ändern. Da war noch mehr. Arri kannte ihre Mutter gut genug, um zu spüren, dass sie schwere Sorgen plagten. Vielleicht Angst.

Und schließlich war es auch Arri, die das immer drückender werdende Schweigen nicht mehr ertrug. Den ganzen Nachmittag über waren sie durch eine ständig wechselnde Landschaft gefahren. Die weite, nur von einigen wenigen, in kleinen Gruppen wachsenden Bäumen unterbrochene Grasebene war einer sumpfigen Flusslandschaft gewichen, durch die sich der Wagen nur mühsam und äußerst vorsichtig seinen Weg hatte bahnen können, dann war es ein gutes Stück - weit weniger gefährlich, dafür aber umso langsamer - am Rande dichter Wälder vorbeigegangen, in denen die Zeit schneller voranzuschreiten schien, denn ein Großteil der Blätter hatte sich schon goldgelb gefärbt oder lag bereits als allmählich verfaulendes Laub am Boden, und schließlich wieder eine weite, flache Ebene, auf der nichts anderes als Gras und kümmerliches Gebüsch wuchsen.

Einmal waren ihnen mehrere Wisente begegnet, die ihrer Gegenwart aber nur flüchtig Beachtung schenkten und nicht einmal die Mahlzeit unterbrachen, die ihnen das noch immer saftig wachsende Gras bot. Arri betrachtete die großen, kräftigen Tiere mit den mächtigen Hörnern mit angemessenem Respekt, aber auch der Neugier, die sie aufgrund der großen Entfernung, an der sie an ihnen vorbeifuhren, ohne Scheu aufbringen konnte. Die Herde bot nicht nur einen beeindruckenden Anblick, die Gelassenheit, mit der die Tiere auf ihre Anwesenheit reagierten, brachte sie auch zu der Vermutung, dass sie sich in einem Landstrich befanden, in den sich nur sehr wenige Jäger verirrten, die hinter den riesigen, aber eigentümlich gutmütigen Tieren her waren; vielleicht überhaupt keine. Ein anderes Mal galoppierte eine Gruppe wilder Pferde in großem Abstand an ihnen vorbei, bei der es sich aber vermutlich nicht um Nachtwind und seine Familie handelte; so vertraut, wie ihre Mutter mit dem Hengst und seiner Herde war, wäre er sicherlich herangekommen, um sie zu begrüßen.

Für eine Weile beschäftigte Arri all das Neue und Unbekannte, das sie sah, hinlänglich genug, dass ihr die Zeit nicht lang wurde. Aber als sie dann auf Geheiß ihrer Mutter an einem Bach vom Bock kletterte und ihr half, die Pferde zu tränken, wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. Mit einem heftigen Anflug schlechten Gewissens sah sie die Sorge in Leas Augen, denn letzten Endes war sie es, die schuld an der niedergeschlagenen Stimmung war, in der sich ihre Mutter befand. Sie war immer noch ein wenig wütend, und sie empfand immer noch ein Gefühl tiefer Enttäuschung, dass das Wiedersehen mit ihrer Mutter so vollkommen anders verlaufen war, als sie gehofft hatte. Aber sie war immer weniger sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, so zu empfinden. Sicherlich hatte sie das Recht, enttäuscht über die Erkenntnis zu sein, dass ihre Mutter die Gesellschaft dieses Fremden der ihren offensichtlich vorzog, und sei es nur für eine Weile - aber auf der anderen Seite sagte sie sich, dass auch ihre Mutter eine Frau mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen war. Vermutlich hatte Lea bei diesem Fremden - Dragosz - etwas gefunden, was ihr weder Rahn noch Grahl oder irgendein anderer aus dem Dorf geben konnte; und das ganz sicherlich nicht nur in körperlicher Hinsicht.

»Du wolltest wissen, was wirklich passiert ist«, begann sie, nachdem sie den Bach schon wieder eine ganze Weile hinter sich gelassen hatten.

Lea tat ihr nicht den Gefallen, es ihr leichter zu machen, indem sie darauf einging. Aber sie erwies sich zumindest als eine Spur erwachsener als sie, denn sie sagte zwar nichts, wandte aber nach ein paar Augenblicken den Kopf und sah sie scheinbar gleichgültig an.

»Es... es war nicht Rahns Schuld«, fuhr Arri stockend fort, jetzt, wo sie sich dazu durchgerungen hatte zu reden, sollte es ihr eigentlich leichter fallen, die richtigen Worte zu finden, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Sie hatte sich fest vorgenommen, bei der Wahrheit zu bleiben, ganz gleich, wie ärgerlich ihre Mutter auch darauf reagieren würde, und doch ertappte sie sich schon wieder dabei, nach Worten und Wendungen zu suchen, die ihre eigene Rolle in dieser unrühmlichen Geschichte in einem etwas besseren Licht erscheinen ließen. Die Worte, die ihr über die Lippen kommen wollten, waren nicht die, die sie sich eigentlich zurechtgelegt hatte.

»Ich war wütend auf dich. Ich wollte nicht allein bleiben, und als Rahn mir dann auch noch erzählt hat, was du ihm aufgetragen hast, habe ich ihn so lange gereizt, bis er zornig wurde und auf mich losgegangen ist.«

Leas Blick wurde fragend, aber sie sagte immer noch nichts. Arri fuhr sich hastig mit dem Handrücken über den Mund, sammelte all ihre Kraft und erzählte dann, stockend und immer wieder innehaltend, um ihrer Mutter einen scheuen Blick zuzuwerfen und in ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion auf das Gehörte zu suchen, sich aber dennoch streng an die Wahrheit haltend, was wirklich passiert war. Als sie bei der Stelle angelangt war, an der sie den sich schlafend stellenden Schmied zu einem glaubwürdigen Zeugen für etwas gemacht hatte, was in dieser Form niemals passiert war, glaubte sie es kurz und belustigt in Leas Augen aufblitzen zu sehen, war aber nicht ganz sicher, ob sie vielleicht nur etwas gewahrte, was sie sehen wollte. Ihre Mutter schwieg weiter und forderte sie mit keinem Wort, keiner Geste auf, irgendetwas zu erklären, sondern sah sie nur aufmerksam an. Als Arri erzählte, wie Rahn sie draußen vor der Hütte angegriffen und was genau er getan hatte, verdüsterte sich ihr Blick tatsächlich für einen kurzen Moment, aber sie sagte auch jetzt nichts, sondern wartete ab, bis Arri zu Ende berichtet hatte.