»Ich sollte enttäuscht sein«, fuhr Lea fort. »Ich dachte, du hättest verstanden, was ich dir beizubringen versucht habe, aber ich bin wohl doch keine so gute Lehrerin, wie ich mir eingebildet habe.«
»Aber ich wollte doch nur...«, begann Arri, aber Lea hörte ihr gar nicht zu, sondern fuhr mit einem Seufzen fort: »Du hast so ziemlich alles falsch gemacht, was man überhaupt nur falsch machen kann. Du musst lernen, vorher über die Folgen dessen nachzudenken, was du tust. Diesmal bist du mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Es hätte auch ihn das Leben kosten können. Wolltest du das?«
Arri war ein wenig erstaunt, als ihr klar wurde, dass sie diese Frage nicht wirklich beantworten konnte. Abermals hob sie hilflos die Schultern. Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, murmelte sie nach einer Weile: »Was stört mich dieser Dummkopf.«
Ohne dass sie hätte sagen können, warum, spürte sie, dass diese Antwort vielleicht die falscheste war, die sie in diesem Moment hätte geben können. Ihre Mutter sah sie eine kleine Ewigkeit lang durchdringend an, dann überzeugte sie sich mit einem raschen Blick davon, dass das Gelände vor ihnen eben und frei von Hindernissen war, sodass die Pferde zumindest für das nächsten Stück allein ihren Weg finden würden, ließ die Zügel in den Schoß sinken und drehte sich auf der schmalen Bank ganz zu ihr um. »Ist das alles, was er für dich ist? Ein Dummkopf?«
Arri wollte antworten, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf, um ihr das Wort abzuschneiden, und fuhr mit ein wenig traurig klingender Stimme fort: »Du hasst ihn, nicht wahr? Ich meine, nicht erst, seitdem du ihn zusammen mit mir gesehen hast... Er hat dich ein Leben lang gequält und gedemütigt, und du hast dir schon lange gewünscht, es ihm heimzuzahlen. Ist es das, was du wolltest? Seinen Tod?«
»Nein!«, sagte Arri fast erschrocken - und vielleicht gerade so hastig, weil da ein winziger Teil in ihr war, der genau das gewollt hätte. Nur hatte sie es bis zu diesem Moment nicht wirklich begriffen. Oder nicht wahrhaben wollen.
»Die Welt wäre bald ein ziemlich einsamer Ort, wenn wir jedem, der uns einmal gedemütigt oder beleidigt hat, den Tod wünschen und alle diese Wünsche in Erfüllung gehen würden«, fuhr Lea fort. »Ich mag Rahn ebenso wenig wie du, aber das gibt mir nicht das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eines kleinen Vorteils willen. Was hättest du getan, hätte ich deine Lüge geglaubt und ihn zur Rechenschaft gezogen? Hättest du zugesehen, wie ich ihn töte?«
Arri wusste es nicht. Aber sie fühlte sich zunehmend unwohler. Ihre Mutter hatte vollkommen Recht, mit jedem Wort. Sie hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie nur noch einmal.
»Das hoffe ich«, sagte Lea ernst. »Ich werde dich nicht für das bestrafen, was du getan hast, obwohl du es wahrlich verdient hättest. Aber ich will, dass du darüber nachdenkst. Nicht so sehr über das, was du getan hast, sondern über das, was hätte passieren können. Versprichst du mir das?«
Arri nickte. Sie meinte es ernst.
»Gut«, sagte Lea. »Dann ist die Angelegenheit für mich erledigt. Ich werde nie wieder darüber sprechen, es sei denn, du willst es.«
Sie wandte sich wieder nach vorn, hob die Zügel und ließ die geflochtenen Stricke abermals mit dieser schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus knallen. Ein sachter Ruck ging durch den Wagen, als die Pferde rascher ausgriffen und dann wieder in ihre gewohnte, gleichmäßige Geschwindigkeit zurückfielen.
Wieder fuhren sie eine geraume Weile schweigend dahin. Die Landschaft, durch die das Fuhrwerk rollte, änderte sich jetzt zusehends, aber es fiel Arri sonderbar schwer, sich darauf zu konzentrieren. Ganz gleich, was Lea auch gesagt hatte, es gelang ihr nicht, tatsächlich Verständnis für Rahn aufzubringen oder ihn auch nur als etwas zu sehen, das auch nur entfernt mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte, und doch hatten Leas Worte an etwas gerührt, das ihr zu schaffen machte. Der Tod und das Sterben gehörten so selbstverständlich zum Leben der Menschen im Dorf, dass sie eigentlich noch nie bewusst darüber nachgedacht hatte. Und doch glaubte sie plötzlich zu spüren, dass von allen Lektionen, die ihre Mutter ihr in diesem Sommer erteilt hatte, diese eine vielleicht die allerwichtigste gewesen war. Es gab Dinge, mit denen man spielen durfte, und andere, mit denen nicht. Und das Leben eines Menschen - selbst eines solchen, wie Rahn es war - gehörte ganz eindeutig nicht dazu.
Aber wenn ein Menschenleben so kostbar und wertvoll war, wieso hatte ihre Mutter ihr dann allein in den zurückliegenden beiden Wochen mindestens ein Dutzend Möglichkeiten beigebracht, um es mit einer einzigen Handbewegung auszulöschen?
»Wir müssen uns bald eine Stelle zum Übernachten suchen«, sagte Lea nach einer Weile. Arri schrak aus ihren Gedanken hoch und sah erst sie an, dann in den Himmel hinauf. Fast wäre sie erschrocken, als sie sah, wie tief die Sonne schon stand, und als hätte es dieses Anblicks bedurft, spürte sie auch plötzlich, wie empfindlich kalt es bereits geworden war. Der wolkenlose, strahlend blaue Himmel und das saftige Grün der Landschaft rund um sie herum vermochten jetzt nicht mehr darüber hinwegzutäuschen, wie nah der Winter bereits war. Nicht mehr lange, und am Morgen würde sich bereits der erste Raureif im Gras zeigen.
Ohne auf eine Antwort zu warten, deutete Lea mit einer Kopfbewegung auf eine kleine Felsgruppe, nur noch einen guten Steinwurf entfernt. Der Wagen steuerte bereits in gerader Linie darauf zu. »Das da vorn scheint ein günstiger Platz zu sein. Was meinst du?«
Arri wusste genau, dass ihre Mutter sich längst entschieden hatte; vermutlich schon lange, bevor sie sie überhaupt auf die Felsgruppe aufmerksam gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie diese Frage vielleicht nur stellte, damit sie sie bejahte, dann aber wurde ihr klar, dass Lea sie einfach auf die Probe stellen wollte. Sie hatte keine wirkliche Lust zu antworten. An diesem Tag war zu viel geschehen, als dass ihr der Sinn noch nach irgendwelchen Spielchen stand. Sie hob nur die Schultern.
Ihre Mutter bedachte sie mit einem tadelnden Blick, beließ es zu Arris Erleichterung aber dabei und hielt den Wagen an, als sie sich den Felsen bis auf ein paar Schritte genähert hatten. Arri wollte aufstehen und vom Bock klettern, doch ihre Mutter machte eine rasche, abwehrende Geste, sprang vom Wagen und verschwand mit schnellen Schritten in dem dicht wuchernden Grün, das die Felsen an drei Seiten einrahmte. Arri entging keineswegs, dass sie dabei den Umhang zurückschlug und die rechte Hand griffbereit auf das Schwert legte. Ganz abgesehen von den wilden Tieren, die sich vielleicht ganz in ihrer Nähe herumtrieben, gab es hier noch ganz andere, möglicherweise weit gefährlichere Räuber: Menschen. Oder um genauer zu sein: Menschen, die ihnen nicht wohlgesonnen waren.
Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis ihre Mutter zurückkam. Sie bemühte sich zwar, möglichst gelassen zu erscheinen, aber es gelang ihr nicht wirklich, den Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht zu verbergen.
»Wonach hast du gesucht?«, fragte Arri.
»Gesucht?« Lea schüttelte unwirsch den Kopf. »Nach nichts. Ich habe mich umgesehen, das ist alles. Es bietet sich an, das zu tun, wenn man sein Lager in einer Umgebung aufschlägt, die man nicht kennt. Es sei denn, es macht dir nicht aus, in unmittelbarer Nähe einer Bärenhöhle zu übernachten oder im Revier einer Wildschweinrotte.«
Arri stieg wortlos vom Wagen. Ihre Mutter hatte zwar Recht, aber das änderte nichts daran, dass das ganz bestimmt nicht der Grund für die Erleichterung gewesen war, die sie in ihren Augen las. Sie hatte etwas ganz Bestimmtes erwartet - nein: befürchtet - und es nicht vorgefunden.
Sie hütete sich, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, sondern maß ihre Umgebung mit einem zwar verstohlenen, aber dennoch sehr aufmerksamen Blick. Die verwitterten Felsen, vor denen der Wagen angehalten hatte, bildeten eine nach drei Seiten hin geschlossene Barriere, die sie zuverlässig gegen Wind und Kälte, aber auch allzu neugierige Blicke schützen würde. Aber sie waren sichtlich nicht die ersten, die diesen Ort zu einer Übernachtung nutzten: Die Erde zwischen den Felsen trug die schwarzen Brandspuren zahlreicher Lagerfeuer, und hier und da meinte sie auch etwas zu gewahren, was verrottete Abfälle sein konnten. Misstrauisch geworden, blieb sie stehen und sah noch einmal in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.