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Schon seit einer geraumen Weile waren sie bergab gefahren, obwohl das Gelände unweit vor ihnen wieder anstieg und, vielleicht noch mehrere Pfeilschüsse entfernt, zu einer steilwandigen Schlucht zwischen karstigen Hügeln wurde, die die Landschaft vor ihnen beherrschten. Arri hatte nicht wirklich auf den Weg geachtet, aber jetzt, als sie darüber nachdachte, war sie doch ziemlich sicher, dass der Wagen die meiste Zeit über in gerader Linie auf diesen Durchlass zwischen den Hügeln zugerollt war. Nur auf dem letzten Stück war er deutlich von diesem Kurs abgewichen und hatte einen regelrechten Schlenker gemacht. Nein, es war kein Zufall, dass sie an dieser kleinen Felsgruppe vorbeikamen, und ihre Mutter hatte sie ebenso wenig rein zufällig entdeckt.

»Wie oft bist du schon hier gewesen?«, fragte sie geradeheraus.

Ihre Mutter bedachte sie nur mit einem kühlen Blick und eilte an ihr vorbei zum hinteren Ende des Wagens. Während sie weiter geflissentlich so tat, als hätte sie ihre Frage gar nicht gehört, nahm sie zwei der großen Bündel, die auf der Ladefläche lagen, warf sie sich so mühelos über die Schultern, als wögen sie gar nichts, und trug sie, immer noch schweigend, zum Felsen hin. Arri fasste sich in Geduld, bis sich Lea ihrer Last entledigt hatte und abermals zurückkam, diesmal aber die Pferde ansteuerte.

»Du kennst diesen Platz, habe ich Recht?«, fragte sie. »Du übernachtest nicht zum ersten Mal hier.«

Wenn auch eindeutig widerwillig, so wandte Lea doch jetzt zumindest den Kopf in ihre Richtung und bedachte sie mit einem langen, stirnrunzelnden Blick. »Ja«, gestand sie. »Aber das ist schon eine Ewigkeit her. Hilf mir.«

Dies war auch wieder eine von Leas Antworten, die im Grunde keine waren, sondern vielmehr ihre Art klarzumachen, dass sie über diese Angelegenheit nicht reden wollte. Aber Arri gedachte dieses Mal nicht, sich so einfach abspeisen zu lassen. Sie hatte kein besonders gutes Gefühl dabei - das Eis, auf dem sie sich bewegte, war dünn. Ihre Mutter hatte ihr offensichtlich vergeben, aber das bedeutete ganz gewiss nicht, dass sie dieses gerade erst so mühsam zurückgewonnene Vertrauen nach Belieben belasten und auf die Probe stellen konnte. Und trotzdem: Ihre Mutter wurde nicht müde, ihr immer wieder zu versichern, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine beinahe erwachsene Frau. Aber dann sollte sie sie gefälligst auch nicht länger wie ein Kind behandeln!

Ihre Mutter ergriff den Zügel eines Pferdes und führte die Tiere so weit um die Felsen und an den Waldrand dahinter heran, bis das Gefährt im Schutz des grauen Gesteins verschwunden war, und auch das war Arris Meinung nach ganz und gar kein Zufall, denn wenn jetzt jemand auf demselben Weg wie sie zuvor näher käme, dann konnte er es praktisch erst sehen, wenn er eigentlich schon daran vorbei war. Arri stieg vom Wagen und setzte vorsichtig den Fuß auf. Der Knöchel schmerzte noch ein wenig, schien aber ansonsten wieder in Ordnung zu sein, und aus einem unerklärlichen Grund war sie vor allem deswegen darüber erleichtert, weil sie ihre Mutter nicht bitten musste, ihn sich anzusehen. Stattdessen half sie mit, die Tiere von ihrem sonderbaren Geschirr zu befreien und ein kleines Stück weit weg zu führen, bevor sie sie am Waldrand wieder anbanden. Als Lea jedoch mit einem ärgerlichen Kopfschütteln die Leine wieder löste, mit der Arri ihr Pferd ganz absichtlich lang genug an einem Baumstamm festgebunden hatte, dass es sich ein wenig bewegen und zumindest ein paar kümmerliche Grashalme erreichen konnte, und es zwei Schritte weit ins Unterholz hineinführte, um es dort kürzer anzubinden, war es mit ihrer Geduld endgültig vorbei.

»Warum sagst du mir nicht endlich, was hier los ist?«, forderte sie. »Du hast Angst, dass uns jemand verfolgt, habe ich Recht? Wer ist es?«

Leas Gesicht verdüsterte sich noch weiter; ob als Reaktion auf ihren unverschämten Ton oder weil sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe gekommen war, konnte Arri nicht sagen. Sie rechnete auch nicht wirklich mit einer Antwort, doch sie bekam eine.

»Vielleicht«, gestand Lea, ausweichend und ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube es eigentlich nicht, aber es ist besser, wir sind vorsichtig.«

»Warum?«, fragte Arri. »Hast du Angst, dass uns jemand überfällt, oder möchtest du nicht, dass man im Dorf erfährt, wohin wir eigentlich gehen?«

Diesmal starrte ihre Mutter sie schon länger und fast feindselig an. Mit einer ihrer beiden Vermutungen hatte Arri ganz offensichtlich ins Schwarze getroffen.

»Vielleicht von beidem etwas«, antwortete sie nach einer Weile. Dann hob sie die Schultern und rang sich ein Lächeln ab. »Du hast Recht. Es wäre mir nicht angenehm, wenn man im Dorf wüsste, wohin ich unterwegs bin. Obwohl es wahrscheinlich überhaupt keine Rolle spielt. Jetzt nicht mehr.« Ihr Lächeln entgleiste ihr zusehends. »Aber alte Gewohnheiten lassen sich so schnell nicht ablegen, weißt du?«

»Nein«, sagte Arri. »Ich weiß nicht.«

Der Blick ihrer Mutter wurde anklagend. Zu Arris Überraschung aber beließ sie es bei einem Seufzen und einem traurigen Kopfschütteln, bevor sie sich umdrehte und zu den Felsen zurückging. Arri folgte ihr, schweigend und hin- und hergerissen zwischen Zorn und einem Gefühl von tiefem Mitleid, das fast gegen ihren Willen in ihr aufkam, als sie den inneren Zweikampf spürte, den ihre Mutter ausfocht. Aber sie konnte auch nicht mehr zurück. Vielleicht, dachte sie, gehörte auch das zu dem, was ihre Mutter so gern als erwachsen werden bezeichnete; Fragen zu stellen, die man eigentlich nicht stellen wollte, weil man Angst vor der Antwort hatte.

Ihre Mutter warf noch einen langen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen niedersinken, lehnte den Hinterkopf und Rücken gegen den rauen Fels und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Arri konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Als sie die Lider wieder hob, hatte sich etwas in ihrem Blick geändert.

»Ja, du hast Recht«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass man im Dorf weiß, wohin ich gegangen bin. Es wäre nicht gut. Nicht gut für uns und nicht gut für die Menschen, zu denen wir gehen.«

Auch Arri setzte sich, verharrte aber in stocksteif aufgerichteter Haltung, fast als hätte sie Angst, ihre Entschlossenheit könne ins Wanken geraten, wenn sie es sich auch nur erlaubte, die Muskeln zu entspannen. »Und wohin genau fahren wir?«

»Zu Freunden«, antwortete Lea. »Menschen, die ich schon seit langer Zeit kenne und schätze. Gerade deshalb wäre es mir nicht angenehm, wenn Sarn oder gar Nor erführen, dass ich mit diesen Leuten Handel treibe.«

Handel? Arri fragte sich, womit ihre Mutter eigentlich handeln wollte. Sie besaß doch nichts. »Liegen sie im Streit mit dem Hohepriester?«, fragte sie.

Ein kurzes, humorloses Lächeln huschte über Leas Züge, und ihre Stimme wurde abfällig. »Goseg liegt mit jedem im Streit, der sich seinem Willen nicht beugt und keinen Tribut zahlt«, antwortete sie, schüttelte aber gleich darauf den Kopf und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Nein. So weit würde ich nicht gehen. Diese Leute haben nichts mit Nor und den anderen Priestern aus Goseg zu schaffen, und sie wollen es auch nicht. Aber es ist trotzdem besser, wenn niemand weiß, dass ich sie kenne. Ich habe schon genügend Menschen Unglück gebracht, nur weil ich da war. Und manchmal ist es durchaus von Vorteil, wenn man einen Ort hat, an den man gehen kann und von dem nicht jedermann weiß.«