»Oder einen Menschen«, vermutete Arri.
Diesmal bekam sie nur ein geheimnisvolles Lächeln zur Antwort, doch ihre Mutter wirkte versöhnlicher, als sie weitersprach. »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen, Arianrhod. Ich verlange von dir, dass du aufhörst, dich wie ein Kind zu benehmen, und dabei behandle ich dich die ganze Zeit über noch immer wie eines. Es war nicht recht von mir, dir nicht zu sagen, was ich wirklich plane.«
»Dafür sagst du es mir ja jetzt«, vermutete Arri, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort und fügte mit schräg gehaltenem Kopf und fragendem Ausdruck hinzu: »Oder?«
Lea zögerte weiterhin. Die Finger ihrer rechten Hand fuhren über den verzierten Griff ihres Schwertes und zeichneten die Konturen der darauf abgebildeten Sonnen- und Mondsymbole nach, ohne dass sie sich der Bewegung selbst bewusst zu sein schien. »Ich könnte dir sagen, was ich vorhatte«, antwortete Lea schließlich und mit einem neuerlichen, traurigen Lächeln. »Aber wozu über Pläne reden, die sich längst zerschlagen haben?«
»Zerschlagen?«
»Ich hatte alles genau geplant«, bestätigte Lea. »Perfekt, wie ich dachte. Vielleicht ein bisschen zu perfekt. Ich dachte, ich hätte alles vorausgesehen, aber anscheinend habe ich mich für klüger gehalten als ich bin, und das nicht zum ersten Mal.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Arri.
»Ich habe mich zu wichtig genommen, das ist passiert«, antwortete ihre Mutter. »Als wir damals hierher kamen, habe ich mich für klüger gehalten als die Menschen, die hier lebten, und ich fürchte, das rächt sich jetzt.«
»Klüger noch als Rahn?«, fragte Arri in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. »Das war in der Tat vermessen.«
Ihre Mutter lachte zwar leise, aber ihr Blick wurde eher noch trauriger. »Damals glaubte ich, ich wäre so viel klüger als all diese Leute hier«, fuhr sie fort. »Ich meinte, alles zu verstehen und ganz genau zu wissen, was ich zu tun hätte. Ich wusste es nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Die Leute in diesem Land sind nicht dumm«, antwortete Lea. »Wenn jemand dumm war, dann ich. Ich habe mich ihnen überlegen gefühlt, nur weil ich mehr wusste als sie. Oder es mir wenigstens eingebildet habe.« Sie stieß sich mit einer müde wirkenden Bewegung von ihrem steinernen Halt ab und streckte ächzend den rechten Arm nach einem der beiden Bündel aus, die sie vom Wagen genommen hatte.
Arri war dem Bündel deutlich näher und hob ihrerseits die Hand, um ihrer Mutter zu helfen, aber dann erkannte sie, dass es genau das war, das sie vorhin durchsucht hatte, und stockte mitten in der Bewegung. Glücklicherweise entging Lea ihre schuldbewusste Geste. Ächzend zog sie das Bündel zu sich heran, knotete es auf und begann darin zu kramen.
»Wir können kein Feuer machen«, fuhr Lea fort, »aber wir haben kaltes Fleisch und Brot, und nur ein paar Schritte hinter dem Wald fließt der Bach, an dessen Unterlauf wir vorhin die Pferde getränkt haben. Wenn du uns etwas Wasser holst, zaubere ich uns etwas Essbares.«
Arri verbiss sich gerade noch rechtzeitig die Frage, warum sie nicht das Wasser aus dem Schlauch nahm, der sich in ihrem Bündel befand. Obwohl im Grunde nichts Verbotenes an dem war, was sie getan hatte, wäre es ihr in diesem Augenblick unangenehm gewesen zuzugeben, dass sie das Gepäck durchsucht hatte. Widerstrebend stand sie auf, ging zwei Schritte weit und kam dann wieder zurück. »Und worin soll ich es herschaffen?«
Lea sah sie einen Moment lang fast ratlos an, dann kramte sie hastig in dem Bündel und förderte eine hölzerne Schale zutage, die sie ihr reichte.
»Du bist wirklich auf alles vorbereitet, wie?«, fragte Arri leicht überrascht.
»Ich will nie wieder in die Verlegenheit geraten, mich mit nichts anderem als einem alten Schwert am Gürtel und einem schreienden Säugling im Arm mitten im Meer wieder zu finden«, antwortete ihre Mutter mit todernstem Gesicht.
Arri blinzelte. »Wie?«
»Geh schon.« Lea wedelte ungeduldig mit der Hand, aber in ihren Augen war nun auch ein verräterisches Funkeln. Arri sah sie noch einen weiteren Herzschlag lang verwirrt an, dann aber beeilte sie sich, nach dem Bach zu suchen, von dem ihre Mutter gesprochen hatte.
Angelockt von einem plätschernden Geräusch umging sie ein kleines Waldstück und stieß an seinem Rand auf den Bach, der diesen Namen überdies nicht wirklich verdiente, denn er war nicht einmal zwei Schritte tief und vielleicht doppelt so breit, nur einer der für diesen Teil des Landes so typischen schmalen Wasserläufe, die das wogende Meer aus Gras und hüfthohem Heidekraut durchschnitten. Arri kam diese Landschaft ungewöhnlich und anziehend vor, aber auch ein bisschen unheimlich. Das Dorf, an dessen Rand sie aufgewachsen war und ihr gesamtes Leben verbracht hatte, lag inmitten dichter, scheinbar endloser und vielerorts wortwörtlich undurchdringlicher Wälder, sodass sie die ungewohnte Weite ringsum erschreckte. Wenn ihre Mutter ihr von ihrem früheren Leben und dem Meer erzählt hatte, hatte sie diese Geschichten immer sehr aufregend gefunden, aber eigentlich nicht wirklich verstanden, wovon sie sprach. Doch es musste dem hier nahe kommen - eine Landschaft, die nahezu vollkommen leer war, so weit das Auge reichte, und in der sich der Blick verlieren konnte, wenn man nicht Acht gab.
Arri ließ sich Zeit, dem Befehl ihrer Mutter nachzukommen. Nachdem sie sich am Ufer des kaum zwei Handflächen breiten Baches in die Hocke gelassen und die Schale randvoll mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sie behutsam zu Boden, ließ sich vollends auf die Knie sinken und trank lange und ausgiebig von dem Wasser, das zwar kristallklar war und köstlich schmeckte, aber auch so kalt, dass sich ihre Lippen beinahe taub anfühlten, nachdem sie ihren Durst endlich gelöscht hatte. Sie stand auch jetzt noch nicht auf, sondern setzte sich ganz im Gegenteil ins Gras und schloss für einen Moment die Augen, um zu lauschen; nicht nur auf das leise Geräusch des Windes, der knisternd mit dem trocken werdenden Laub der Baumkronen über ihr spielte und auf dem kniehohen Gras Töne wie auf den Saiten eines fremdartigen, aber nicht unangenehm klingenden Instruments hervorrief, sondern auch und vor allem in sich hinein, auf das Durcheinander von Gefühlen und Gedanken, die sich zum Teil so heftig widersprachen, dass sie einfach nicht wusste, was nun richtig und was falsch war, oder überhaupt etwas davon.
Da war eine dünne, schwache Stimme in ihr, die ihr sagte, dass sie zurückgehen sollte, bevor ihre Mutter anfing, sich Sorgen um sie zu machen und vielleicht kam, um nach ihr zu suchen, aber zugleich spürte sie auch, dass es nicht geschehen würde. Ihre Mutter hatte sie wahrscheinlich nicht wirklich fortgeschickt, um Wasser zu holen. In dem Beutel, aus dem sie die Schale genommen hatte, befand sich mehr als genug Wasser für sie beide und einen einzigen Abend. Vielleicht hatte sie sie weggeschickt, weil sie einfach allein sein wollte, und vielleicht hatte sie auch gespürt, dass es ihr, Arri, ganz genau so erging.
Arri war verstört, verunsichert, verwirrt und ängstlich wie schon seit langer Zeit nicht mehr, und sie wusste auch nicht mehr, was sie glauben sollte. Alles war plötzlich so ganz anders. Die wenigen Worte, die ihre Mutter vorhin gesprochen hatte, hatten ihr Leben erneut und vielleicht noch grundlegender aus der Bahn geworfen als all die Veränderungen zuvor, die sie für so gewaltig gehalten hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mutter zum allerersten Mal wirklich zweifelnd erlebt. Trotz allem, trotz aller Fehler, die sie gemacht hatte, allem, was Arri als ungerecht empfand und nicht annehmen mochte, trotz ihrer Launen und des unbestreitbaren Umstandes, dass sie manchmal ungerecht und selbstsüchtig war, auch ihrer eigenen Tochter gegenüber, war sie Arri bisher zugleich dennoch unfehlbar erschienen; der Mensch auf der Welt, der ihr Leben wie kein anderer bestimmte und letzten Endes behütete. Nun hatte sie zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben, und auch wenn Arri noch nicht wirklich verstand, was sie damit gemeint hatte, so spürte sie zugleich doch tief in sich drinnen, dass dieser Fehler gewaltig gewesen sein musste. Schlimm genug, um ihrer beider Leben vollkommen aus der Bahn zu werfen.