Vielleicht war es das. Vielleicht fing sie an zu begreifen, dass ihre Mutter nicht unfehlbar war und dass sie eben nicht immer da sein würde, um ihre Tochter zu beschützen und alles wieder ins rechte Lot zu bringen, wenn diese Fehler beging oder das Schicksal ihr übel mitspielte. Leas Eingeständnis machte aus der Mutter, die für Arris Verständnis bisher schlichtweg die stärkste Macht unter dem von den Göttern gespannten Himmel war, stärker noch als das Schicksal selbst, einen ganz gewöhnlichen Menschen.
Aber das wollte sie nicht glauben.
Ein leises Knacken drang in ihre Gedanken. Arri schrak auf, sah sich hastig nach rechts und links um und zwang ein gequältes Lächeln auf ihre Lippen, als sie nichts sah. Vermutlich war es auch nichts gewesen. Ein trockener Zweig, der unter seinem eigenen Gewicht abgebrochen war, ein verspätetes Echo auf ihre Schritte oder ein kleines Tier, das vor dem unbekannten Eindringling in seine Welt floh. Es gab ein Dutzend Erklärungen, und eine war so überzeugend wie die andere. Dennoch schlug ihr Herz immer schneller, und sie hatte plötzlich wieder das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Sie versuchte - vergeblich -, sich selbst in Gedanken zur Ordnung zu rufen, gab aber fast sofort wieder auf und erhob sich.
Als sie sich nach der Schale bückte und sie behutsam aufhob, um nichts von ihrem Inhalt zu verschütten, löste sich ein Schatten aus dem Waldrand und trat auf sie zu.
Arri schrak so heftig zusammen, dass sie sich das Wasser nicht nur über den Rock schüttete, sondern die Schale gänzlich fallen ließ. Sie prallte auf dem Uferstreifen auf, sprang noch einmal in die Höhe und fiel ins Wasser, wo sie der Strömung einen Moment lang schaukelnd Widerstand entgegenzusetzen versuchte und dann wie ein winziges Boot davontrieb.
Arri starrte die Gestalt, die unversehens aus dem Wald gekommen war, aus entsetzt aufgerissenen Augen an. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte keinen Laut hervor. Trotzdem schlug sie die Hand vor den Mund und prallte einen Schritt zurück, als der Fremde weiter auf sie zukam.
Sie erkannte ihn jetzt. Es war der schwarzhaarige Mann, der sie vor dem Wolf gerettet hatte. Der, den sie zusammen mit ihrer Mutter im Wald gesehen hatte. Dragosz.
Rasch, aber ohne Hast ging er an ihr vorbei, machte zwei schnellere Schritte, um die davonschwimmende Schale einzuholen, und fischte sie mit einer übertriebenen Bewegung aus dem Wasser. Dann kam er zurück und streckte ihr die Schale hin. »Das hast du fallen lassen, Arianrhod. Du solltest vorsichtiger sein. Deine Mutter wäre nicht erfreut, wenn du sie verlieren würdest.«
Arri griff unwillkürlich nach der Schale, aber sie nahm die Worte kaum zur Kenntnis. Ihr Herz hämmerte, und ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich eher an der Schale festklammerte, statt sie zu halten. Sie war der Panik so nahe, dass sie am liebsten schreiend davongelaufen wäre, und gleichzeitig auch gelähmt vor Schrecken und vollkommen unfähig, sich zu bewegen.
Dragosz blieb eine ganze Weile einfach so stehen und sah sie an. Er sagte nichts, und in seinem sonderbar geschnittenen Gesicht rührte sich nicht der kleinste Muskel, aber in seinen Augen erschien plötzlich ein nahezu belustigtes Funkeln, auch wenn Arri das unangenehme Gefühl hatte, den wahren Grund für seinen Spott nicht zu kennen; und auch gar nicht kennen zu wollen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er schließlich. Sein Akzent kam Arri viel stärker vor als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Er sprach zwar klar verständlich, aber langsam, als müsse er über jedes einzelne Wort nachdenken, bevor er es wählte, und was er sagte, klang sonderbar hart und auf schwer zu greifende Weise fremdartig.
»Ich... habe auch keine Angst«, antwortete Arri schleppend. Es klang selbst in ihren eigenen Ohren albern.
Das Funkeln in Dragosz’ Augen nahm zu. »Ja, das scheint mir auch so«, sagte er spöttisch. »Obwohl du es solltest... ich meine, nicht vor mir. Aber es ist nicht ungefährlich für zwei Frauen, allein unterwegs zu sein.«
»Wir sind ja nicht allein. Du bist doch hier, um auf uns aufzupassen«, antwortete Arri, und hätte ihre Stimme nicht vor Furcht und Anspannung gezittert, dann hätten die Worte vielleicht auch tatsächlich so patzig geklungen, wie sie es sollten.
Trotzdem lachte Dragosz. »Leandriis irrt sich, weißt du das?«, meinte er. »Sie hat behauptet, du wärst nicht wie sie. Aber das stimmt nicht. Ihr seid euch ähnlicher, als sie ahnt.«
Vielleicht nur ähnlicher, als sie wahrhaben will, dachte Arri. »Hast du dich nur an mich angeschlichen, um mit das zu sagen?«
»Hätte ich mich angeschlichen«, antwortete Dragosz, »hättest du mich nicht bemerkt, Arianrhod.« Er lächelte unerschütterlich weiter, und auch sein Gesicht blieb nahezu ausdruckslos, und doch meinte Arri etwas wie eine ganz sachte Drohung aus seinen Worten herauszuhören.
Sie spürte, dass ihre Hände noch immer zitterten, jetzt vielleicht sogar noch mehr als zuvor, versuchte einen Moment lang vergeblich, es zu unterdrücken, indem sie die Finger mit aller Kraft um die hölzerne Schale schloss, bis sie diese schließlich verärgert auf den Boden stellte. Dragosz beobachtete sie aufmerksam, und sie musterte umgekehrt nun ihn ganz offen und mit schon fast herausfordernder Neugierde. Was sie sah, überraschte und irritierte sie gleichermaßen. Sie hatte Dragosz im Grunde ja bisher nur einmal gesehen, und damals war sie in Todesangst und vollkommen verstört gewesen, sodass sie sein Gesicht nicht einmal dann hätte wirklich beschreiben können, hätte sie es schon wenige Augenblicke nach der unheimlichen Begegnung versucht.
Nun stand er knapp auf Armeslänge und im hellen Tageslicht vor ihr, geradezu als wollte er ihr Gelegenheit geben, ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und da er offensichtlich nichts dagegen hatte, tat sie es auch. Sie korrigierte ihre Schätzung, was sein Alter anging, um etliche Jahre nach unten; er war deutlich älter als sie und auch älter als Rahn, aber auch ein gutes Stück jünger als ihre Mutter. Er war von kräftigem Wuchs und seine Haut war eine Spur dunkler als die der Dorfbewohner. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, und das Auffälligste an ihm überhaupt war sein Bart, der nicht ungezügelt bis auf die Brust hinabhing, sondern so kurz abgeschnitten war, dass man hier und da die Haut seiner Wangen und seines kräftigen Kinns hindurchschimmern sehen konnte.
»Was willst du von mir?«, fragte sie, als Dragosz auch weiter keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder in irgendeiner anderen Art auf ihre fragenden Blicke einzugehen.
»Hast du das nicht gerade selbst gesagt?«, entgegnete Dragosz. »Ich passe auf, dass euch nichts geschieht.«
»Meine Mutter kann gut auf sich selbst aufpassen«, erwiderte Arri.
»Ich weiß. Und wenn sie allein unterwegs wäre, würde ich mir auch keine Sorgen um sie machen.« Dragosz lachte ganz leise. »Allerhöchstem um denjenigen, der so dumm wäre, einen Streit mit ihr anzufangen. Unglücklicherweise ist sie nicht allein unterwegs.«
Arris Blick verdüsterte sich noch mehr, als ihr klar wurde, was der Fremde damit sagen wollte. »Du meinst, du willst darauf aufpassen, dass ich keine Dummheiten mache? Hat meine Mutter dir das aufgetragen?«
»Leandriis?« Dragosz schüttelte den Kopf. Erst jetzt, im Nachhinein, fiel Arri auf, dass er ihren wahren Namen gebrauchte, so, wie er auch sie mit Arianrhod angesprochen hatte, nicht mit der verkürzten Form, als die sie jedermann im Dorf kannte. Ihre Mutter musste diesem Fremden wirklich sehr vertrauen, wenn sie ihm ihre wahren Namen verraten hatte, die sie sonst jedem anderen gegenüber hütete wie einen kostbaren Schatz. »Nein. Ganz im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass sie sehr begeistert wäre, wenn sie uns jetzt hier miteinander reden sähe.«