»Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen«, fuhr Dragosz fort, nachdem er eine geraume Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass sie ihm eine Antwort gab. Er schüttelte den Kopf und sah Arri dabei beinahe erwartungsvoll an, doch sie hüllte sich weiterhin in beharrliches Schweigen. »Ich überlasse es dir, ob du deiner Mutter etwas davon erzählst oder nicht«, fuhr er fort, allerdings in einem Ton, der wenig Zweifel daran aufkommen ließ, welcher der beiden Möglichkeiten er den Vorzug gab. »Letzten Endes spielt es wahrscheinlich gar keine Rolle. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich in der Nähe bin, um auf euch aufzupassen.«
Nein, dachte Arri, das war ganz gewiss nicht der Grund, aus dem er sich ihr gezeigt hatte; zumindest nicht der einzige. Sie behielt auch diesen Gedanken vorsichtshalber für sich, aber sie sah Dragosz nun noch aufmerksamer an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was ihm ganz eindeutig unangenehm zu sein schien, denn irgendwie gelang es ihm plötzlich nicht mehr, vollkommen ruhig dazustehen oder auch nur seine Hände still zu halten. Auch wenn es ihr noch immer nicht wirklich gelang, in seinem fremdartig geschnittenen Gesicht zu lesen, so war jedoch zumindest eines klar: Dragosz bedauerte es längst, überhaupt gekommen zu sein.
»Ich werde in eurer Nähe bleiben, solange ich es kann«, fuhr er fort. Seine Hand bewegte sich abermals unter den Umhang, und als sie diesmal wieder aus den schwarzen Fellen auftauchte, hielt sie einen kleinen Beutel aus Leder umklammert, den er ihr nach kurzem Zögern reichte. Arri zögerte deutlich länger, die Hand auszustrecken, tat es aber schließlich doch, und Dragosz ließ den Beutel in ihre Handfläche fallen. Er war unerwartet schwer und schien irgendetwas von körnig-grober Konsistenz zu enthalten.
»Falls ihr in Gefahr geratet und ich nicht in der Nähe bin, um euch sofort zu helfen«, sagte er, »dann wirf einfach diesen Beutel ins Feuer. Er brennt sehr hell, sodass man den Feuerschein nachts weit sieht, und tagsüber entwickelt er einen starken Rauch.«
Arri schloss unsicher die Finger um das kleine Säckchen. Es war nicht so, dass sie Dragosz nicht glaubte - aber diesen Beutel anzunehmen war fast so, wie einen Pakt mit ihm zu schließen; einen Pakt, der vielleicht weit mehr beinhaltete, als ihr zu diesem Zeitpunkt schon klar war. Schließlich aber nickte sie zustimmend. Was hatte sie schon zu verlieren?
»Was ist denn an unserer Reise so gefährlich?«, erkundigte sie sich zögernd. Sie war ziemlich sicher, dass die ehrliche Antwort nichts gelautet hätte und sich Dragosz nur wichtig machen wollte; und sie war mehr als nur ziemlich, sondern vollkommen sicher, dass es ein Fehler war, überhaupt mit ihm zu reden. Das Einzige, was sie vernünftigerweise tun sollte, wäre, auf der Stelle zu ihrer Mutter zurückzugehen und ihr von diesem Treffen zu berichten.
»Reisen sind immer gefährlich«, antwortete Dragosz, »vor allem, wenn sie durch unbekanntes Land führen. Ist euch nicht aufgefallen, dass ihr verfolgt werdet?«
»Doch. Gerade jetzt, vor ein paar Augenblicken.«
Dragosz blieb ernst. »Ich weiß nicht, wer es ist, aber jemand folgt euch, seit du bei deiner Mutter aufgetaucht bist.« Er hob rasch die Hand, als Arri etwas sagen wollte. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern. Aber ihr solltet ein wenig vorsichtiger sein.«
Arri fragte sich, was genau er unter sich darum kümmern verstand, auch wenn sie die Antwort im Grunde gar nicht wissen wollte. Laut fragte sie: »Du weißt, wohin wir fahren?«
»Deine Mutter hat es mir nicht gesagt«, antwortete Dragosz - was im Grunde keine Antwort war. Aber dergleichen hatte sie beinahe schon erwartet. »Weißt du es denn nicht?«
Dann hätte ich wohl nicht gefragt, dachte Arri verärgert. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf sich ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, das Dragosz schließlich mit einem unechten Räuspern beendete.
»Verlier den Beutel nicht, den ich dir gegeben habe«, sagte er hastig. »Und sei vorsichtig damit, wenn ein Feuer in der Nähe ist. Das Pulver brennt sehr leicht.« Er sah sie auffordernd an, trat noch unbehaglicher von einem Fuß auf den anderen und bückte sich schließlich nach der Schale, die sie ins Gras gestellt hatte. Mit einer raschen Bewegung füllte er sie, richtete sich wieder auf und hielt ihr die randvoll gefüllte Schale hin. »Geh jetzt zurück, bevor sich deine Mutter zu fragen beginnt, wo du bleibst. Nimm.«
Als Arri nach der Schale griff, berührten sich ihre Finger, und Arri fuhr so heftig zusammen, dass sie wiederum einen Teil des Wassers verschüttete, aber sie merkte es kaum. Dragosz zog die Hand nicht zurück, obwohl das kalte Wasser auch über seine Finger lief. Stattdessen griff er plötzlich zu und umfasste ihre rechte Hand und das Gelenk; auf eine sonderbare Weise zugleich fest wie auch so sacht, dass sie es kaum spürte.
Dennoch jagte ihr die Berührung einen eisigen Schauer über den Rücken, ein Gefühl, das sie im allerersten Moment für Furcht hielt, bevor sie begriff, dass es etwas völlig anderes und Neues war. Sie konnte nicht sagen, ob ihr dieses Gefühl angenehm war oder ob es sie in Panik versetzte. Vielleicht beides zugleich.
»Was...?«, begann sie.
Dragosz ließ ihre Hand los, aber nur, um ihr im nächsten Moment den Zeigefinger über die Lippen zu legen und zugleich sacht den Kopf zu schütteln. Arris Herz begann zu hämmern. Aus dem kalten Schauer wurde eine ganzes Heer winziger eiskalter Ameisen, die ihr Rückgrat hinunterliefen, und die Panik war nun da, auch wenn es eine seltsam stille Art der Panik war, frei von jeglicher Furcht. Ihre Hände und Knie begannen zu zittern.
Dragosz’ Zeigefinger blieb einen scheinbar endlosen Augenblick auf ihren Lippen liegen, dann fuhr er ihr mit dem Handrücken sanft über die Wange. Sein Gesicht war dem ihren plötzlich so nahe, dass sie seinen Atem spüren konnte, der sonderbar roch, warm und nach einem Gewürz, das sie nicht kannte, aber nicht unangenehm. Ihr Herz schlug jetzt unmittelbar in ihrem Hals, und ihre Finger fühlten sich so kalt an, als wären sie erfroren. Sie hatte furchtbare Angst, aber zugleich war da auf einmal auch der absurde Wunsch in ihr, er möge weitermachen mit dem, was er tat.
Und einen Moment lang schien es tatsächlich so. Er hörte auf, ihre Wange zu streicheln, und umfasste stattdessen ihr Gesicht mit beiden Händen. Er kam noch näher. Aber nur für einen Moment. Dann konnte sie regelrecht sehen, wie etwas in seinem Blick erlosch. Fast hastig ließ er ihr Gesicht los und zog sich zwei Schritte weit zurück. Er wirkte erschrocken, fast ein bisschen schuldbewusst. »Geh jetzt«, sagte er. Und war verschwunden.
Arri blinzelte benommen in die Runde. Ihr Herz hämmerte noch immer so hart, als wollte es ihr aus der Brust springen, und es vergingen noch einige weitere verwirrende Augenblicke, bis Arri begriff, dass Dragosz sich natürlich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte. Vielmehr war sie es gewesen, die einfach aufgehört hatte, die Welt um sich herum wahrzunehmen.
Dafür brach diese Welt nun mit um so größerer Wucht über sie herein. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es längst nicht mehr nur ihre Hände und Knie allein waren, die zitterten. Sie bebte am ganzen Leib. Die Wasserschale, die sie in den Händen hielt, war längst wieder leer. Ihre Wangen glühten, als hätte sie Fieber, das Blut, das durch ihre Adern rauschte, schien sich in siedendes Öl verwandelt zu haben. Ihre Finger fühlten sich an, als wären sie zu Eis erstarrt. Die Welt schien sich rings um sie zu drehen, und fast kam es ihr vor, als bewege sich selbst der Boden, auf dem sie stand.
Was war nur mit ihr los?
Tief in sich drinnen wusste sie sehr wohl, was es war, aber es war ein verbotenes Wissen, vor dem sie zurückschrak wie vor einer ebenso verlockenden wie verzehrenden Flamme.