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Wo war Dragosz?

Arris Blick tastete unstet über den Waldrand, suchte in den Schatten nach ihm und versuchte eine Spur zu erhaschen, irgendein Zeichen, dass er da gewesen war, als benötige sie einen Beweis dafür, dass es diese Begegnung überhaupt gegeben hatte.

Es gab keinen. Der geheimnisvolle Fremde war so lautlos und rasch wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Sie musste zurück! Sie musste ihrer Mutter davon berichten, von allem, was er gesagt hatte, und vor allem davon, was er beinahe getan hätte!

Hastig fuhr sie herum, war mit zwei Schritten am Waldrand und machte dann noch einmal kehrt, um zum Bach zu gehen und die Wasserschale zum dritten Mal zu füllen. Im Grunde war es völlig aberwitzig. Ihre Mutter hatte Wasser, und nach dem, was gerade geschehen war, spielte es überhaupt keine Rolle, und zugleich war es ihr mit einem Mal unglaublich wichtig, dieses Wasser zurückzubringen; nicht weil Lea das Wasser brauchte, sondern weil sie ihr aufgetragen hatte, es zu holen. Ihr schlechtes Gewissen (warum eigentlich?) brannte wie eine Flamme in ihr und machte es ihr fast unmöglich, auch nur zu atmen. Behutsam, die Schale mit Wasser mit ausgestreckten Armen vor sich haltend wie einen unendlich kostbaren Schatz, von dem sie unter gar keinen Umständen auch nur den winzigsten Tropfen verschütten durfte, machte sie sich auf den Rückweg.

18

All ihre Bedenken und Ängste, ob und vor allem wie sie ihrer Mutter von ihrer Begegnung mit Dragosz beichten sollte, erwiesen sich als überflüssig, als sie zu der kleinen Felsengruppe auf der anderen Seite des Waldes zurückkehrte. Obwohl die Sonne den Horizont zwar bereits berührte, aber noch nicht untergegangen war, fand sie ihre Mutter schlafend vor, in der gleichen Haltung, in der sie vorhin dagesessen hatte, mit Kopf und Rücken gegen den Felsen gelehnt und einem Ausdruck vollkommener Erschöpfung auf den im Schlaf erschlafften Zügen. Viel mehr vielleicht als alles, was Dragosz gesagt hatte, machte ihr dieser Anblick klar, wie Recht er gehabt hatte: Arri war es den ganzen Tag über nicht aufgefallen, denn sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, doch das Gefühl von schlechtem Gewissen, das sie auf dem Weg hierher begleitet hatte, schien nun regelrecht aufzulodern, als ihr klar wurde, wie erschöpft ihre Mutter wirklich war. Wahrscheinlich hatte sie während der gesamten Nacht zuvor kein Auge zugetan, und der Weg, der hinter ihnen lag, musste sie überdies zusätzlich angestrengt haben, auch wenn sie ihn vermeintlich bequem auf dem Kutschbock zugebracht hatte.

Obwohl das nun vollkommen sinnlos geworden war, setzte Arri die Schale mit Wasser so behutsam vor ihrer Mutter ab, wie sie sie hierher getragen hatte; das ganze Stück, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten, als wäre es tatsächlich eine Opfergabe, die sie ihrer Mutter brachte und nicht einfach nur eine Schale mit kaltem Wasser, das sie überdies nicht wirklich brauchte. Im allerersten Moment fühlte sie sich einfach nur hilflos - auf dem Weg hierher, so quälend lang er ihr auch vorgekommen sein mochte, war sie der Frage, wie sie ihrer Mutter von Dragosz erzählen sollte, schlichtweg dadurch ausgewichen, dass sie sich vollkommen auf die Aufgabe konzentriert hatte, keinen einzigen Wassertropfen zu verschütten. Nun aber hatte sie diese Ausrede nicht mehr. Anfangs verspürte sie eine tiefe Erleichterung: Lea schlief den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung, und sie, Arri, hatte nicht das Recht, sie daraus zu wecken. Und außerdem spielte es keine Rolle, ob sie ihr jetzt oder erst später von ihrem Gespräch mit Dragosz berichtete.

Aber auch das war nicht wirklich die Wahrheit. Da war ein Teil in ihr, der ihr einflüstern wollte, dass es nicht nötig sei, ihr überhaupt davon zu erzählen, dass es ihrer Mutter keinen Nutzen brachte, wenn sie sie immer noch weiter belastete, ein Teil, der ihr, leise und mit einschmeichelnder Überzeugungskraft, klarmachen wollte, dass Dragosz Recht hatte, dass es besser war, wenn sie gar nichts von seiner Nähe wusste, denn schließlich hätte sie ihr dann auch von den Verfolgern berichten müssen, von denen Dragosz erzählt hatte, und das wiederum würde ihre Mutter sicherlich nur noch mehr beunruhigen.

Arri schüttelte sacht den Kopf, als ihr klar wurde, was diese Stimme wirklich war: nichts anderes als ihr eigener, fast verzweifelter Wunsch, Ausreden zu finden, um ihrer Mutter nichts von Dragosz erzählen zu müssen. Denn da war auch noch etwas anderes in ihr: keine Stimme, keine wirkliche Begründung, wohl aber ein Durcheinander von Gefühlen und Bildern, die sie mit einem Gefühl tiefer Scham erfüllten; und die zugleich doch so unbeschreiblich süß und kostbar waren, dass sie sie mit aller Macht festzuhalten versuchte. Sie glaubte, die Berührung von Dragosz’ Fingern auf ihrer Wange noch immer zu spüren, glaubte seine Augen zu sehen, in denen etwas geschrieben stand, das nicht sein durfte und vor dem sie sich mehr fürchtete als vor allem anderen auf der Welt und das sie zugleich auch mehr herbeisehnte als alles andere. Wie konnte sie sich so nach etwas verzehren, das sie gar nicht kannte?

Für einen kurzen Moment wurde das nagende Gefühl von Schuld so stark in ihr, dass sie die Hand ausstreckte, um ihre Mutter an der Schulter zu berühren und sie wachzurütteln. Sie hatte das Gefühl, sterben zu müssen, wenn sie ihr nicht sofort beichtete, was sie erlebt - und vor allem, was sie sich gewünscht - hatte. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen wich sie vorsichtig ein kleines Stück zurück, ließ sich auf der anderen Seite der Felsennische mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken und warf einen Blick in den Himmel hinauf. Die Sonne war mittlerweile zu einem kaum noch fingerbreiten Kreisausschnitt über den Bergen im Westen geworden, und die Schatten wurden länger und dunkler. Es war jetzt schon spürbar kühler als vorhin, als sie fortgegangen war, um Wasser zu holen, und Arri dachte voller Schaudern daran, wie kalt die Nächte jetzt bereits wurden, und dass ihre Mutter sie ja schon gewarnt hatte, dass sie kein Feuer machen konnten. Immerhin hatte sie aber zwei Decken vom Wagen geholt, die Arri zuvor noch gar nicht entdeckt hatte, sodass sie jetzt der Kälte zumindest nicht vollkommen schutzlos ausgeliefert war.

Mit diesem Gedanken und dem festen Vorsatz, ihrer Mutter in dieser Nacht einen Teil ihrer Last abzunehmen, sie schlafen zu lassen und an ihrer Stelle Wache zu halten, nickte sie ein.

Und erwachte mitten in der Nacht und mit klopfendem Herzen, und weniger von einem Geräusch als eher von einem Gefühl allgemeiner Unruhe oder vielleicht auch Bedrohung. Sie war allein. Obwohl es so dunkel war, dass sie selbst die kaum drei Schritte entfernten Felsen ihrer Nische nur als massive Wand aus undurchdringlicher Schwärze wahrnehmen konnte, spürte sie doch, dass ihre Mutter nicht mehr da war. Vielleicht war es auch einfach das Fehlen ihrer regelmäßigen Atemzüge, das sie geweckt hatte. Arri hatte plötzlich ein Gefühl von absoluter Stille - auf der anderen Seite der Felsen spielte der Wind weiter raschelnd mit dem Gras, das trockene Laub der Bäume knisterte, als strichen unsichtbare Finger darüber, und sie hörte sogar die leisen Geräusche, die die beiden Pferde im Schlaf verursachen mochten, und trotzdem meinte sie zugleich von einer allumfassenden Stille eingehüllt zu sein, dem Schweigen, das aus dem Wissen stammte, plötzlich allein gelassen worden zu sein.

Arri sprang so hastig auf, dass ihr schwindelig wurde, aber sie unterdrückte das Gefühl und streckte nur rasch die Hand aus, um sich an dem Felsen hinter ihr abzustützen. Ihr Herz begann zu rasen. Wo war ihre Mutter? Sie hatte ihr versprochen, Wache zu halten und sie zu beschützen, während sie schlief, und dass sie dieses Versprechen nicht laut, sondern nur sich selbst gegenüber abgegeben hatte, änderte rein gar nichts. Sie hatte ihr Wort gebrochen - schon wieder -, und das war alles, was zählte.