Tally stand noch immer da und schrie, als Hrhon und Angella neben ihr anlangten. In blinder Panik schlug sie um sich, hörte Angella stürzen und fühlte sich plötzlich von Hrhons übermenschlich starken Händen gepackt.
Wie von Sinnen trat sie zu, hämmerte mit den Fäusten auf Hrhons Schädel ein und versuchte sogar an ihre Waffe zu kommen.
Angella entwand ihr den Laser, holte aus und versetzte ihr einen Schlag mit der flachen Hand, der sie halb besinnungslos in sich zusammensinken ließ. Aber sie schrie immer noch weiter, bäumte sich mit aller Kraft gegen Hrhons Griff auf, versuchte ihm die Augen auszukratzen und trat nach Angella.
Wie in einer entsetzlichen Vision, auf die sie selbst keinen Einfluß hatte, hörte sie sich schreien, ununterbrochen Wellers Namen rufend, und als Antwort noch immer das hohe, schrille Kreischen des Weller-Dinges, Laute, die nichts mehr mit einer menschlichen Stimme gemein hatten und die doch ihren Namen brüllten, erfüllt von einer Furcht, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengte.
Dann brach ein peitschendes weißes Etwas aus dem Sumpf, unmittelbar neben Hrhon. Schwarzer Morast besudelte sie; ein nur kleinfingerstarker, aber ungemein kräftiger Strang wickelte sich wie eine Peitschenschnur um Hrhons Körper. Der Waga brüllte vor Zorn und Schmerz und versuchte ihn zu zerreißen, aber selbst seine ungeheuerlichen Kräfte versagten. Neben ihr schrie Angella wie unter Schmerzen auf, hob den Laser und versuchte vergeblich, die Waffe einzuschalten.
Auch zwischen ihren Füßen zerbarst der Sumpf. Ein ganzes Gespinst weißer, glitzernder Fäden schoß in die Höhe, wickelte sich um Angellas Arme, ihre Schultern, und ihren Körper, legte sich wie ein klebriges Gespinst über ihr Gesicht und erstickte ihre Schreie. Tally spürte, wie sich Hrhon noch einmal aufbäumte und mit aller Gewalt an dem entsetzlichen Geflecht zerrte, das ihn in die Tiefe reißen wollte.
Und plötzlich war Karan da. Blindlings und ohne auf die Gefahr zu achten, in die er sich selbst begab, sprang er zu ihnen herab, warf sich mit einem Schrei auf Angella und begann das erstickende Wurzelgeflecht von ihrem Gesicht herunterzuzerren.
Was Hrhon mit seinen übermenschlichen Kräften nicht geschafft hatte - ihm gelang es. Die weißen Fäden zerrissen wie Spinnweben. Plötzlich war Angellas Gesicht wieder frei; sie konnte atmen. Karan zerrte und riß weiter, befreite auch ihre Schultern und Arme und hielt plötzlich den Laser in der Hand.
Ein dünner, unerträglich gleißender Blitz fuhr aus der Waffe und brannte ein rauchendes Loch in den Boden, nur wenige Handbreit vor Angellas Füßen.
Tally glaubte das qualvolle Zusammenziehen des unglaublichen Wesens wie einen eigenen Schmerz zu fühlen. Mit einem Male waren sie frei. Die dünnen Stränge, die Hrhon und sie gepackt und in den Boden hinabzuziehen versucht hatten, fielen kraftlos herab.
Hrhon stieß einen erleichterten Schrei aus und stürmte los, während Karan hinter ihnen herumfuhr und Angella in die Höhe riß, mit einer Kraft, die er einfach nicht haben konnte.
Sie erreichten den Baumstamm. Hrhon warf sie wie eine leblose Last auf das morsche Holz hinauf, fuhr noch einmal herum und streckte die Pranken aus, um Karan und Angella zu helfen.
Aber Tally registrierte all dies nur mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins. Sie war fast besinnungslos, und fast wahnsinnig vor Angst - und sie hörte noch immer Wellers entsetzliche Schreie.
Die Alptraumgestalt war längst verschwunden, eins geworden mit dem gigantischen protoplasmischen Ungeheuer, das sich unter dem schwarzen Sumpf des Bodens verbarg, aber Tally sah sie noch immer. Wohin sie auch blickte, glaubte sie das fürchterliche, zerlaufende Gesicht zu erkennen, den hilflos aufgerissenen Mund, aus dem gellende Hilfeschreie drangen. Sie war nicht mehr Herrin ihres Willens.
Während Hrhon sich abmühte, Karan und Angella auf die rettende Insel hinaufzuzerren, stemmte sie sich hoch, kroch auf Händen und Knien zurück, zurück zum Sumpf, zu Weller, den sie retten mußte, der ein Recht darauf hatte, gerettet zu werden, von ihr gerettet zu werden, denn sie war es gewesen, die ihn hierhergebracht hatte, die...
Sie sah Hrhon über sich aufragen, versuchte ihn beiseitezustoßen und spürte nur noch, wie seine gewaltige Pranke sie beinahe sanft im Nacken berührte.
Es war hell, als sie erwachte. Sie spürte, daß sie nur Minuten ohne Bewußtsein gewesen sein konnte. Unter ihr war der schuppige Panzer Hrhons, der sie trug, auf ihrem Rücken seine Hand. Ihr Herz jagte, als wäre sie um ihr Leben gerannt, und sie erinnerte sich vage an einen Traum, einen entsetzlichen, nicht enden wollenden Traum, der Stunden gedauert zu haben schien, obwohl sie mit einem anderen, klar gebliebenen Teil ihres Bewußtseins begriff, daß sie nur Augenblicke ohne Bewußtsein gewesen war, ein Traum, in dem sie selbst ein Rolle spielte, und eine fürchterliche Kreatur, die Weller war und doch nicht Weller, und die...
Die Erkenntnis, daß es kein Traum war, ließ sie aufschreien. Sie fuhr hoch, schlug in blinder Furcht um sich und spürte, wie ihre Handgelenke gepackt und festgehalten wurden. Die Dunkelheit über ihr zersplitterte zu einem zackigen Muster aus Schwarz und Grün und loderndem Rot, als Hrhon sie wenig sanft von der Schulter hob und zu Boden legte.
In ihren Ohren war noch immer der gellende Schrei der Weller-Kreatur, seine Hilferufe, die sich unauslöschlich tief in ihre Seele gebrannt hatten, zu tief, als daß sie sie jemals wieder vergessen konnte. Sie schrie, bäumte sich auf und spürte, wie eine Hand in ihr Gesicht klatschte. Der Schmerz war seltsam irreal.
Mühsam öffnete sie die Augen. Es war noch immer Nacht. Das Licht kam von den Bränden, die irgendwo, nicht mehr sehr weit über ihnen, den Himmel verzehrten. Dann erkannte sie Angella.
»Nimmst du freiwillig Vernunft an, oder muß ich sie dir einprügeln?« fragte Angella. Sie lächelte, aber ihr Blick war sehr ernst.
Tally nickte mühsam. Ihre Wange brannte, wo sie Angellas Hand getroffen hatte. »Laß... mich los«, sagte sie. »Ich bin in Ordnung.« Das Reden fiel ihr schwer. Da war etwas gewesen, in ihrem Traum oder dem entsetzlichen Erlebnis, das sie für einen Traum gehalten hatte. Sie wußte nicht mehr, was es war, aber es war wichtig gewesen. Lebenswichtig. Eine Erkenntnis. Ein jähes Wissen, das alles erklärte. Aber es war verschwunden. Und je mehr sie versuchte, es zurückzuzwingen, desto rascher schien es ihr zu entgleiten.
Angella schien ihr nicht zu glauben, denn sie lockerte den Griff um ihre Handgelenke zwar ein wenig, ließ aber noch nicht los. »Wie fühlst du dich?«
»Gut, verdammt noch mal.« Tally riß sich ärgerlich los, setzte sich vollends auf und sah sich um.
Im ersten Moment erkannte sie nichts als Schwärze, durchzuckt von roten und dunkelgelben Blitzen aus Licht. Dann begriff sie, daß der zerbrochene Himmel, über ihr das gewaltige Netz war, das Karan das Dazwischen genannt hatte.
Aber das Licht war nicht das sinnverwirrende grüngraue Halblicht der Dämmerungszone, sondern flackernder Feuerschein, der durch Lücken und rauchende Löcher in der Pflanzendecke fiel. Es gab sehr viele solcher Lücken, wie Tally mit einem raschen Blick feststellte. Das Blätterdach über ihnen war zerfetzt. Blätter und Pflanzen hingen als verkohlte Strünke von den geschwärzten Stämmen der Riesenbäume. Hier und da tropfte flüssiges Feuer in die Tiefe wie brennender Regen. Die Luft roch verbrannt. Sie waren nicht mehr weit von der Stelle entfernt, an der sie in die Unterwelt herabgestiegen waren.
»Was ist passiert?« fragte sie mühsam.
Angella zuckte mit den Schultern. »Karan hat uns rausgebracht«, antwortete sie. »Was sonst?« Ein ärgerliches Stirnrunzeln huschte über den nicht verbrannten Teil ihres Gesichts. »Wäre es anders, wärst du kaum noch in der Lage, eine derartig dumme Frage zu stellen.«
»Zum Teufel, das meine ich nicht«, fauchte Tally. »Was ist mit den Hornköpfen und Karan?«