»Komm, komm, Tally«, sagte Angella ärgerlich. »Du warst ein paar Sekunden weggetreten, keine zehn Tage - also was soll das? Deine hornigen Freunde sind tot - wenigstens hoffe ich es. Und was Karan angeht - frag ihn selbst. Seit wir hier sind, schweigt er wie ein Grab. Er will nur mit dir reden.« Sie deutete mit einer wütenden Geste über die Schulter zurück auf Karan, der mit untergeschlagenen Beinen dahockte und ins Leere starrte.
Tally stand auf. Im ersten Moment schwindelte ihr.
Die Tiefe unter ihr schien zu locken, und da war die Stimme... Wellers Stimme, zu einem entsetzlichen, kreischenden Etwas verzerrt, das tief in ihrer Seele wühlte und grub...
Sie verscheuchte den Gedanken.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
Karan hob müde den Blick. In seinen Augen stand ein Ausdruck von vagen Schmerz. Er nickte. »Du verlangst jetzt sicher eine Erklärung von Karan«, sagte er.
»Es wäre an der Zeit, meinst du nicht?« fauchte Angella.
Tally hob ärgerlich die Hand und gab ihr ein Zeichen, zu schweigen. »Was war das?« fragte sie. »Dieses... dieses Ding, Karan?« Selbst die bloße Erinnerung an ihr schreckliches Erlebnis bereitete ihr fast körperliche Übelkeit.
»Nichts«, antwortete Karan ausweichend. Er sah Tally nicht an. »Nur ein Trugbild. Einer der zahllosen Schrecken, mit denen der Schlund seine Opfer narrt.«
Aber sie spürte, daß er log, und Karan mußte seinerseits spüren, daß es so war, denn er wich ihrem Blick noch immer aus. »Nur ein Trugbild, Tally«, sagte er noch einmal.
»Warum hattest du dann solche Angst davor?« fragte sie. »Was ist das dort unten, Karan? Die... die Ungeheuer, die die Hornköpfe vernichtet haben - was sind sie?«
Wieder hatte sie das deutliche Gefühl, daß Karan nach einer Ausflucht suchte, nach irgendeiner plausiblen, aber falschen Erklärung für das Entsetzliche, das sie erlebt hatten. Dann lächelte er plötzlich; rasch und voller Schmerz und Resignation. Einen Moment lang sah er sie an, dann stand er auf, drehte sich halb herum und deutete nach oben.
»Ihr müßt fort«, sagte er. »Eure Feinde sind noch in der Nähe, Karan kann sie spüren.«
»Das ist keine Antwort!« fauchte Angella. Aber Karan reagierte gar nicht auf ihre Worte, sondern deutete nur abermals nach oben, legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihnen mit Grimassen, still zu sein. Widerwillig - und eigentlich nur aus dem einzigen Grund, daß sie gar keine andere Wahl hatte - folgte ihm Tally, als er weiterging. Er ging vorsichtig und stark nach vorne gebeugt, wie ein Mann, der gegen einen unsichtbaren Sturmwind ankämpfte.
Es wurde ein wenig heller, als sie das Netz durchstießen, aber es war noch immer nicht das Licht des Tages, sondern flackernder Feuerschein. Wie Tally befürchtet hatte, hatte der Brand um sich gegriffen. Mit dem nächsten Regen würde er erlöschen, aber zumindest jetzt noch brannte der Wipfelwald überall. Die Luft schmeckte bitter und nach Rauch. Ein unglaublicher Lärm schlug über ihnen zusammen.
Karan blieb stehen, sah sich einen Moment lang unschlüssig um und deutete dann in die Richtung, in der das Muster aus Rot und Orange nicht ganz so dicht war.
»Dort entlang!«
Tally warf einen letzten Blick in die Tiefe, ehe sie losging. Sie schauderte. Unter ihr war nichts. Das bleiche Totenlicht des Schlundes war verschwunden, als wäre es nur für sie sichtbar, die ohnehin in seine unsichtbaren Fänge gerieten, aber sie spürte die Verlockung, das lautlose Wispern in ihrem Innern, die Stimme Wellers, die sie nie, nie wieder vergessen würde. Sie war es gewesen, die ihn hierhergebracht hatte, die die Schuld an seinem Tod (Tod? Nein - etwas tausendfach Schlimmeres!) trug.
Diesmal kostete es sie ungeheure Überwindung, den Gedanken zurückzudrängen und sich Karan und den beiden anderen anzuschließen.
Es war wie eine getreuliche Fortsetzung des Alptraumes, der mit dem Abend seinen Anfang genommen hatte. Der Wald brannte an zahllosen Stellen. Dann und wann regnete Feuer aus dem Wipfelwald über ihren Köpfen, und mehr als einmal mußte Karan umkehren, weil es den Weg, den er kannte, nicht mehr gab. Sie marschierten eine halbe Stunde lang durch eine Hölle aus flackerndem Licht und Hitze und Feuer, das jäh vom Himmel fiel, aus Rauch und unbeschreiblichem Lärm, und sie legten in dieser Zeit nicht mehr als eine Meile zurück; vielleicht weniger, denn mehr als einmal mußten sie große Umwege in Kauf nehmen.
Plötzlich blieb Karan stehen, hob warnend die Hand und deutete mit der anderen auf eine Stelle dicht vor ihnen.
»Was ist?« fragte Tally.
Karan zuckte die Achseln, bedeutete ihnen mit Gesten, zurückzubleiben, und ging allein weiter, sehr viel vorsichtiger als bisher. Trotz seiner Warnung folgten ihm Tally und Angella, während Hrhon ein Stück zurückblieb, um ihren Rücken zu decken.
Tally verspürte einen eisigen Schauer von Furcht und Ekel, als sie sah, was Karan entdeckt hatte.
Es war ein Hornkopf; eine der gigantischen fliegenden Käferkreaturen, denen sie um ein Haar zum Opfer gefallen wären. Er war tot. Ein Teil seines Rückenpanzers war weggerissen, das verwundbare Hügelgespinst darunter zerfetzt und wie verbrannt. Etwas Weißes, Formloses hatte sich in das verwundbare Fleisch darunter gefressen.
Dann sah sie die verkrümmte Gestalt, die neben dem Rieseninsekt lag.
Ganz instinktiv blieb sie stehen. Die Frau war tot, mußte tot sein, so, wie sie zwischen den geschwärzten Ästen lag, mit unnatürlich verrenkten Gliedern, über und über mit ihrem eigenen und dem Blut des Hornkopfes besudelt, aber Tallys Instinkte waren stärker als ihr logisches Denken. Sie blieb stehen, trat ein winziges Stück zur Seite und senkte die Hand zum Gürtel, wo der Laser sein sollte. Erst dann fiel ihr ein, daß Angella ihr die Waffe fortgenommen hatte - und danach Karan.
»Nicht«, sagte Karan warnend. »Geht nicht näher.«
Auch er schien die Gefahr zu spüren, die die tote Drachenreiterin wie ein übler Geruch umgab.
Nicht so Angella. Sie schnaubte abfällig, trat an Tally vorbei und kniete neben der Toten nieder. Mit einer groben Bewegung drehte sie sie auf den Rücken.
Die Hand der Toten bewegte sich. Ein winziges, rotes Dämonenauge starrte Angella an.
Tally reagierte, ohne zu denken. Mit weit ausgebreiteten Armen warf sie sich vor, umschlang Angellas Taille und riß sie zu Boden. Gleichzeitig stieß ihr Fuß nach der Hand der Drachenreiterin. Sie traf, aber nicht richtig; der Laser prallte zurück, wurde seiner Besitzerin aber nicht aus der Hand geschleudert, sondern entlud sich mit einem peitschenden Knall.
Es ging unglaublich schnell, aber Tally sah jedes noch so winzige Detail mit entsetzlicher Klarheit.
Gleichzeitig schien sich die Luft in einen zähen Sirup zu verwandeln, der ihre Glieder daran hinderte, sich mit der gewohnten Schnelligkeit zu bewegen. Sie war hilflos, nur noch Zuschauerin des Entsetzlichen, das geschah: Der Blitz fuhr kaum eine Handbreit an ihrem Rücken vorbei, sengte eine flammende Spur in den Wald und explodierte in Karans Schulter. Karans rechter Arm flammte auf wie eine Fackel. Feuer sprang auf sein Gesicht über, ergriff sein Haar und sein Hemd, plötzlich verstummten seine Schreie; ein Mantel aus weißroten Flammen hüllte ihn ein. Er taumelte, blieb einen Moment reglos stehen, in grotesker, vorgebeugter Haltung, als wehre sich etwas in ihm noch mit verzweifelter Kraft, dann brach er zusammen.
Angella schrie auf, stieß Tally zurück und warf sich auf die Drachenreiterin. Ein Dolch blitzte in ihrer Hand. Ihr Gesicht war verzerrt vor Haß.
»Nicht!« schrie Tally. »Tu es nicht, Angella!«
Aber es war zu spät. Der Laser in der Hand der Sterbenden bewegte sich, aber Angella war schneller.
Mit einem Tritt fegte sie die Waffe beiseite, hob den Arm und stieß zu, einmal, zweimal, dreimal, wie in einem schrecklichen Blutrausch gefangen, immer und immer wieder, bis Tally endlich über ihr war und ihren Arm zurückriß.