Tally vertrieb die Erinnerungen an die letzten Tage, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blickte nach Norden, wo der Fels wie eine gigantische schwarzbraune Nadel in den Himmel stieß. Es fiel ihr schwer, seine Höhe zu schätzen, weil es von einer bestimmten Größe an aufwärts einfach nicht mehr möglich war, so etwas zu tun.
Und der Drachenfels hatte diese Größe eindeutig.
Es war kein Fels, sonder ein Berg, an der Basis mindestens zwei Meilen durchmessend und drei-, wenn nicht viermal so hoch. Früher, als der Schlund noch ein Meer und voller Wasser gewesen war, mußte er eine Insel gewesen sein, und das bedeutete, daß er mindestens die Höhe der Klippe hatte. Vielleicht auch sehr viel mehr, denn der Boden über den sie sich bewegten, war während der letzten Tage beständig abgefallen.
»Ist er das?« fragte Angella. Wie Tally war sie aus dem Wald getreten und eine geraume Weile einfach schweigend stehengeblieben, um den titanischen Felsen anzustarren. Tally nickte, und Angella fuhr mit unveränderter Stimme fort: »Ich wußte immer, daß du verrückt bist. Aber ich wußte nicht, wie schlimm es war.«
Sie seufzte, wandte noch einmal den Blick, um zum Wald zurückzusehen, und schüttelte in übertrieben gespielter Resignation den Kopf. Sie sah müde aus, und wenn sie so müde war, wie Tally sich fühlte, dann mußte sie sehr müde sein.
»Gehen wir weiter«, befahl Tally. Die Sonne stand bereits tief, in einer Stunde würde es Nacht werden. Und Tally wollte bis dahin möglichst weit vom Wald und seinem schrecklichen Beherrscher entfernt sein. Karan hatte bisher Wort gehalten, und es gab keinen Grund, anzunehmen, daß er es nicht auch weiter tun würde - aber sie spürte die Nähe des Ungeheuers noch immer wie eine erdrückende Last, und Angella und auch Hrhon erging es nicht anders. Keiner der beiden widersprach, als sie weitergingen.
Vor ihnen breitete sich eine Landschaft aus, wie sie öder nicht einmal in der großen Wüste gewesen war, in der Tallys Suche begonnen hatte. Es gab keine Spur von Leben - nur harten, von Millionen und Millionen und Millionen Jahren geduldiger Erosion zerschundenen Fels, phantastisch zackige Formen bildend, zwischen denen sich hier und da kleine, trügerisch glatte Nester von weißem Sand gebildet hatten. Karan hatte sie vor diesen Sandflächen gewarnt, wie vor so vielem, was sie erwarten mochte. Es gab einen Unterschied zwischen dieser Wildnis und den Wüsten, die Tally kannte - beide waren gleich tödlich, aber die Gefahren des Schlundes waren viel direkterer Art.
Trotzdem verschwendete Tally kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken daran. Sie waren viel zu weit gekommen, um sich jetzt noch aufhalten zu lassen.
Eine halbe Stunde lang marschierten sie schweigend dahin, erschöpft, viel zu müde, um miteinander zu sprechen oder auch nur zurückzublicken. Hitze lag wie ein flimmernder Schleier über der Steinwüste, und schon bald meldete sich der Durst wieder, der wie sein Bruder, der Hunger, in den letzten Tagen zu einem treuen Begleiter geworden war. Sie hatten wenig Wasser gefunden, kleine, ölig schimmernde Pfützen, deren bloßer Anblick ihnen die Mägen herumgedreht hatte, aber keine Nahrung, und fünf Tage Hunger begannen ihren Preis zu fordern. Tally geriet jetzt schon bei kleineren Anstrengungen außer Atem, und oft wurde ihr übel. Sie fragte sich, wie sie den Aufstieg schaffen wollten, erschöpft und schwach, wie sie waren.
Als es zu dämmern begann, war der Drachenfels noch nicht näher gekommen. Der Himmel über ihnen überzog sich mit Rot, dann mit Grau, das rasch und lautlos wie ein Tintenfleck in holzigem Papier über das Firmament kroch, und gleichzeitig wurde es kalt. Die Schatten zwischen den Felsen färbten sich schwarz.
»Whir sssollten rasssten«, sagte Hrhon. »Vhergessst nissst, wasss Kharan gesssagt hat.«
Tally nickte müde. Wie konnte sie? Karan hatte von Abgründen gesprochen, die jäh zwischen den Felsen aufklafften, und von gefährlichen Dingen, die darin hausten, nicht so tödlich wie der Schlund, aber tödlich genug für drei Wahnsinnige wie sie, die sich einbildeten, die Welt auf den Kopf stellen zu können. Beinahe wahllos deutete sie auf eine Ansammlung mächtiger grauer Felsbrocken, die wenige Schritte neben ihrem Weg aufragten.
»Dort.«
Auf den letzten Metern ließen ihre Kräfte rapide nach, als schwände mit dem Tageslicht auch die Energie aus ihren Körpern. Hrhon mußte Tally stützen, damit sie auf dem unebenen Boden nicht fiel und sich verletzte, und auch Angella taumelte mehr in den Schutz der Steine, als sie ging.
Als sie sie endlich erreicht hatten, brach die Nacht herein.
Es war ein bizarrer Anblick: Der Schatten der Klippe, nun mehr als hunderfünfzig Meilen lang, wanderte wie eine Mauer aus Schwärze über das Land, verschlang den Wald, das lächerliche kurze Stück freien Geländes, das sie bisher zurückgelegt hatten, und schließlich auch ihr Versteck. Es wurde so dunkel, daß sie selbst Hrhon nur noch als verschwommenen Schatten erkennen konnte, obwohl er unmittelbar neben ihr saß.
Eine Zeitlang saßen sie einfach reglos da, still, jede für sich in seine eigenen, düsteren Gedanken versunken.
Tally hätte erleichert sein müssen, denn das Allerschlimmste lag hinter ihnen; die größte Gefahr, die diese Welt bieten konnte, war überwunden. Aber sie spürte nichts als Mutlosigkeit.
Schließlich war es Angella, die das Schweigen brach.
»Wir sollten Wachen aufstellen«, sagte sie matt. Wie zur Antwort erscholl aus der Nacht ein schrilles, mißtönendes Kreischen, noch sehr weit entfernt, aber unzweifelhaft von etwas sehr Großem ausgestoßen.
Überhaupt war die Nacht nicht stilclass="underline" überall raschelte und polterte es, da waren Geräusche wie Schritte, etwa, das sie an das Schleifen schwerer horniger Körper auf hartem Fels erinnerte, und andere Laute, von denen sie gar nicht wissen wollte, was sie wirklich bedeuteten.
Tally versuchte sich einzureden, daß es nur der Wind war, der sie narrte.
»Dasss mache isss«, erbot sich Hrhon. Tally hörte, wie er aufstand und sich entfernte. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Hrhon war ungeheuer zäh - fünfzigmal so stark wie ein Mensch und sicher auch ebenso leistungsfähig, aber er hatte - wie so oft - die Hauptlast der letzten Tage getragen; im wahrsten Sinne des Wortes. Mehr als einmal hatte er Angella und sie über Meilen hinweg auf der Schulter getragen, wenn ihre Kräfte versagten und ihre Beine sich einfach weigerten, sich immer wieder aus dem klebrigen Sumpf zu lösen. Er hatte sie getragen, wenn sie schlafen wollten, oder wenn Karan - ohne einen Grund dafür anzugeben - plötzlich darauf bestand, einen bestimmten Ort sehr schnell wieder zu verlassen. Auch ein Waga brauchte von Zeit zu Zeit Ruhe, um sich zu erholen. Sie würde ihn umbringen, wenn sie ihn weiterhin so unbarmherzig antrieb. Aber sie war viel zu müde, um der Stimme ihres Gewissens nachzugeben.
»Weck mich in zwei Stunden!« rief Angella ihm nach. »Ich löse dich dann ab. Oder besser in drei.«
Hrhon zischelte eine Antwort und verschwand vollends in der Nacht. Die Geräusche der Wüste verschluckten seine Schritte.
»Immer noch die starke Angella, wie?« fragte Tally spöttisch. »Hast du immer noch nicht genug? Oder kannst du einfach nicht anders?« Sie verstand selbst nicht genau warum sie das sagte - es wäre an ihr gewesen, so zu reagieren. Vielleicht war sie einfach in der Lage eines verwundeten Tieres, das Schmerzen litt und wild um sich biß; selbst in die Hand, die sie streicheln wollte.
»Du hast recht«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang sehr ernst. »Ich kann wirklich nicht anders. Es ist nicht meine Art, die im Stich zu lassen, die mir geholfen haben.«