Hraban stand wieder auf. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. »Ich glaube, es war ein bißchen zu viel für dich, Talianna«, sagte er. »Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem alten Mann, und du ruhst dich ein bißchen aus. Wenn ich mit meiner Arbeit hier fertig bin, komme ich zu euch, und wir reden noch ein bißchen. Einverstanden?«
Talianna nickte. Hraban brachte sie zu Gedelfi zurück, der schweigend und in unveränderter Haltung vor dem fast heruntergebrannten Feuer hockte, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Er sah nicht einmal auf, als er Hrabans und Taliannas Schritte hörte.
Und das Sonderbarste war: er fragte nicht mit einem einzigen Wort danach, was Talianna gesehen hatte.
Es wurde sehr heiß, als die Sonne höherstieg, denn das Mittsommerfest, das ja gestern hätte gefeiert werden sollen, lag wirklich auf dem heißesten Tag des Sommers, wenngleich die Natur sich dem von Menschen geschaffenen Kalender auch in diesem Punkt nur in den allerwenigsten Fällen unterwarf. Aber zumindest war es die heißeste Zeit des Jahres, und das bedeutete selbst hier im Norden Mittagsstunden, in denen sich die Menschen kaum aus den Häusern trauten und auch die Arbeit ruhte, außer in den Minen, in denen es immer Nacht und immer warm war. Hier draußen jedoch, wo es keinen Schutz mehr gab, wurde es beinahe unerträglich, schon lange bevor die Sonne den höchsten Punkt ihrer ruhelosen Wanderung erreicht hatte, und Talianna und die anderen zogen sich in den Schatten einer Ruine zurück, auch wenn die unmittelbare Nähe der geschwärzten Mauern sie mit einem Unbehagen erfüllte, das fast schlimmer war als wirkliche Furcht.
Unterdessen schwärmten Hrabans Krieger in weitem Umkreis aus, um nach weiteren Überlebenden der Katastrophe zu suchen. Das Floß war nach weniger als einer Stunde fertig gewesen und seither drei- oder viermal über den Fluß gependelt, so daß die Suche auch dort drüben fortgesetzt werden konnte, vor allem in den Bergwerken, in denen Hraban noch immer Verschüttete vermutete. Auch ein paar Stahldörfler beteiligten sich an der Suche, wenngleich Hraban keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie wenig ihm ihre Hilfe behagte.
Aber sie blieb ohnehin ergebnislos. Die kleinen Gruppen, die Hraban losgeschickt hatte, kamen im Laufe des Tages eine nach der anderen zurück, und sie waren alle allein. Talianna begann endgültig zu begreifen, daß es keine Überlebenden gegeben hatte. Die Vernichtung war ebenso total wie sinnlos gewesen, und es war ja auch alles viel zu schnell gegangen. Auch sie und die anderen zehn verdankten ihr Leben ja schließlich nur einem Zufall. Zwanzig Meter weiter vom Waldrand entfernt und näher an der Stadt wären auch sie getötet worden.
Wie Hraban versprochen hatte, kam er wieder zu ihr, wenn auch erst spät am Nachmittag und nicht, um zu essen. Er kam nicht allein: das Schildkrötenwesen Hrhon war bei ihm, was die anderen Überlebenden dazu veranlaßte, sich hastig ein Stück zurückzuziehen oder zumindest mitten im Gespräch zu verstummen und den Söldner und seinen bizarren Begleiter mit schlecht verhohlener Furcht anzustarren. Nur Talianna zeigte keine Angst; irgendwie glaubte sie zu spüren, daß die grüngeschuppte Gestalt wirklich so freundlich und harmlos war, wie Hraban behauptete. Außerdem brauchte sie sich nur den schwarzen Riesenkäfer ins Gedächtnis zurückzurufen, um Hrhon schon beinahe schön zu finden.
Hraban sah müde aus, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Ruhe und Kraft verloren und waren jetzt fast fahrig. Seine Kleider waren voller Schmutz und schwarzem Ruß, und Talianna bemerkte einen schwarzen Kratzer auf seiner rechten Wange, der gerade erst zu bluten aufgehört hatte, denn die Kruste darauf war noch sehr hell. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen vor Talianna nieder, legte die Hände auf die Knie und gab seinem reptilischen Begleiter mit einer Kopfbewegung zu verstehen, es ihm gleichzutun. Hrhon hockte sich umständlich zu Boden, zog die Beine unter den Leib und sah nun wirklich aus wie eine Schildkröte, die vor hundert Jahren vergessen hatte, mit dem Wachsen aufzuhören. Der Blick seiner dunklen Augen huschte unstet von Talianna zu Gedelfi und wieder zurück.
»Wer ist gekommen?« fragte Gedelfi plötzlich. Er sah auf, blickte so genau in Hrabans Richtung, als könne er ihn sehen, wandte plötzlich den Kopf und schnüffelte hör- und sichtbar. Natürlich, dachte Talianna. Er mußte den Waga riechen. Selbst ihr war sein scharfer Reptiliengeruch nicht entgangen, als sie ihm das erste Mal begegnet war.
»Hraban«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.
»Und wer noch?« Gedelfi schnüffelte erneut. »Etwas ist bei dir. Ein nicht-Mensch.«
Hraban nickte. »Hrhon«, sagte er. »Mein Leibwächter. Er ist ein Waga. Die Hälfte meiner Krieger sind nicht-Menschen. Hat Talianna dir nichts davon erzählt?« Bei diesen Worten sah er Talianna so fragend und gleichzeitig vorwurfsvoll an, daß sie unwillkürlich die Arme hob und antwortete: »Er hat nicht gefragt.«
»So?« Hrabans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist das wahr, alter Mann? Ich dachte immer, Blinde seien besonders begierig, alles zu erfahren, was geschieht.«
»Ich brauche nichts über euch zu erfahren«, erwiderte Gedelfi feindselig. »Ich weiß, wer ihr seid.«
Hraban seufzte, setzte zu einer scharfen Antwort an und beließ es dann bei einem neuerlichen Seufzen und einem unterstützenden Kopfschütteln. »Du glaubst also zu wissen, wer wir sind«, sagte er nur.
Gedelfi schürzte die Lippen. »Ich glaube es nicht«, antwortete er betont. »Ich weiß es.«
»Und woher?« fragte Hraban.
»Ich bin ein alter Mann«, erwiderte Gedelfi. »Ein sehr alter Mann, Hraban. Ich weiß Dinge, die heute nur noch wenige wissen. Ich weiß, welcher Macht ihr dient. Ich wußte, daß ihr kommen würdet, wie die Aasgeier, um das zu vollenden, was die...« Er stockte einen Moment. »... was die anderen nicht vollbracht haben«, endete er schließlich. Talianna hatte das sehr sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen.
Hraban maß den Blinden mit einem sehr langen, forschenden Blick. »Du wußtest es also«, wiederholte er schließlich. Dann lachte er, setzte sich ein wenig auf und machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das hier sieht mir aber nicht danach aus, als hätte irgendwer hier gewußt, was geschehen würde.«
Gedelfi schnaubte. »Sie waren Narren«, sagte er überzeugt. »Ich habe sie gewarnt, und andere auch. Aber sie haben nicht auf uns gehört, und irgendwann habe ich nichts mehr gesagt.«
»Und gehofft, du könntest dich täuschen«, fügte Hraban hinzu.
Diesmal antwortete Gedelfi nicht sofort. »Nein«, sagte er endlich. »Eher, es könne noch lange genug gutgehen, daß ich es nicht mehr erleben muß. Aber nun ist ja ohnehin alles vorbei. Ich werde sterben, noch ehe...«
Er stockte einen Moment, legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen, und Talianna wußte, daß er auf diese Weise versuchte, die Wärme der Sonne zu spüren und so ihre Stellung am Himmel zu erraten - etwas, das einem Sehenden schier unmöglich gewesen wäre, womit er Talianna und die anderen Kinder aber immer wieder verblüfft hatte. »Noch ehe die Sonne untergeht«, sagte er dann.
»Was redest du für einen Unsinn?« fragte Talianna erschrocken. »Du wirst nicht sterben, Gedelfi. Du bist unverletzt, und ich gebe auf dich acht.« Instinktiv streckte sie die Hand nach der des alten Mannes aus, aber Gedelfi entzog ihr seine Finger. Talianna blickte verstört von ihm zu Hraban und wieder zurück.
»Laß nur, Kind«, sagte er, kalt, ohne eine Spur von Trost oder Verständnis, sondern fast agressiv. »Du meinst es gut, aber ich weiß, was geschehen wird. Wir alle werden sterben.«