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»Du hast noch nie davon gehört?« Tally schüttelte den Kopf, und Angella fuhr, noch immer mit zornbebender Stimme, fort: »Sie sind völlig harmlos, weißt du, aber es sind sehr nützliche kleine Biester. Ihre Männchen nämlich können fliegen, und obwohl sie praktisch kein Gehirn haben, sind sie sehr treu. Sie führen eine regelrechte Ehe, weißt du? Ein Sandmadenpärchen, das einmal zusammengefunden hat, trennt sich niemals wieder.«

»Verdammt noch mal, was soll das?« fauchte Tally ungeduldig. »Wenn ich einen Vortrag in Biologie brauche, gehe ich zu einem Scholaren!«

»Das hättest du besser getan, bevor du dich mit Jandhi eingelassen hast«, versetzte Angella böse. »Diese widerlichen kleinen Biester hier sind nämlich nicht nur treu, sondern äußerst anhänglich. Ein Männchen wittert sein Weibchen auf zehn Meilen Entfernung.« Sie lachte hart. »Na, dämmert es dir? Alles, was Jandhi zu tun brauchte, war dir diese Maden unterzuschieben und die dazu passenden Männchen in einen Glaskasten zu setzen, um...«

»Um immer genau die Richtung zu wissen, in der sie suchen mußte«, murmelte Tally. Sie starrte abwechselnd Angella und den hohlen Schwertgriff an. »Das ist...«

»Das ist typisch für Jandhi«, fiel ihr Angella ins Wort. »Du solltest diese Hexe niemals unterschätzen, Liebling. Sie muß schon damals geahnt haben, daß mit dir irgend etwas nicht stimmt, Tallyliebling. Aber ich gebe zu, daß nicht einmal ich damit gerechnet habe.« Sie schüttelte wütend den Kopf und setzte dazu an, die Maden aus ihrer Hülle heraus auf den Boden zu schütteln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.

»Worauf wartest du?« fragte Tally. »Bring' sie um!«

Angella grinste. »Ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Gib mir das Schwert.«

Tally reichte ihr gehorsam die Schwertklinge. Angella schraubte die Waffe vorsichtig wieder zusammen, überzeugte sich davon, daß der Griff wieder fest an seinem Platz saß, und wandte sich zu den beiden Hornköpfen um. Einen Moment lang blickte sie die beiden Tiere abschätzend an, dann hob sie das Schwert und stieß die Klinge fast bis ans Heft in den gepanzerten Schädel des kleineren der beiden Insektenwesen. Der Hornkopf bäumte sich mit einem schrillen Pfeifton auf und starb.

»Was hast du vor?« fragte Tally.

Angellas Grinsen wurde noch breiter. »Eine kleine Retourkutsche«, sagte sie. »Hrhon, hilf mir! Halt das Biest fest.«

Sie wartete, bis der Waga herangekommen war und die Zügel des Fluginsektes ergriffen hatte, dann bückte sie sich, durchtrennte mit einem raschen Schnitt die Fesseln, die es mit dem Kadaver des zweiten Hornkopfes verbanden, und richtete sich wieder auf. Sorgsam befestigte sie Tallys Schwert am Sattelzeug des bizarren Flugtieres, trat einen halben Schritt zurück und zog den Dolch aus dem Gürtel. »Kannst du ihn halten, wenn ich ihm die Augen aussteche?« fragte sie.

Tally keuchte, aber sie kam nicht mehr dazu, Angella zurückzuhalten. Hrhon knurrte zustimmend, und Angellas Hand machte eine blitzschnelle Bewegung zum Schädel des Hornkopfes hin. Die beiden Facettenaugen erloschen wie Kerzenflammen im Wind.

Der Hornkopf begann zu toben. Schwarzes Insektenblut besudelte Angella, die sich mit einem fast komisch anmutenden Hüpfen in Sicherheit brachte. Der Panzer des Riesenkäfers klappte auseinander. Eine der beiden Hälften traf Hrhon wie ein Hammer aus Chitin und schleuderte ihn zu Boden; dann entfaltete sich ein Paar gigantischer, halbdurchsichtiger Käferflügel über dem buckeligen Leib.

Tally zog hastig den Kopf ein, als das Insekt taumelnd in die Höhe schoß, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst. Mit ungeheurer Wucht krachte es gegen den Felsen, taumelte ein Stück zurück und herab und fing sich wieder. Sekunden später war es in der Nacht verschwunden.

»Was, zum Teufel, sollte das?« fragte Tally kalt, als sich Angella aufrichtete und damit begann, Sand aus ihrem Haar zu schütteln.

»Ein freundlicher Gruß an Jandhi«, antwortete Angella grinsend. »Diese Hornköpfe sind verdammt zäh, weißt du? Er ist jetzt zwar blind, aber mit ein wenig Glück wird es noch Tage dauern, bis er stirbt.« Sie lachte leise. »Ich gäbe deine rechte Hand dafür, Jandhis Gesicht zu sehen, wenn sie ihn endlich eingeholt hat.«

Tally antwortete nicht. Aber sie dachte noch sehr lange darüber nach, ob Angella sich wirklich versprochen hatte, als sie sagte: deine rechte Hand...

~ 3 ~

Aus den zwei Tagen, die Tally für den Weg zum Drachenfels veranschlagt hatte, wurden fünf, denn der Berg war zum einen sehr viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, und sie kamen zum anderen sehr viel langsamer voran, als sie gefürchtet hatte. Sie marschierten nur nachts, was zwar mühsam und nicht ganz ungefährlich war; denn die Steinwüste entpuppte sich als gigantisches Labyrinth aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Spalten. Trotzdem wäre es unmöglich gewesen, bei Tageslicht zu marschieren. Es wurde nicht annähernd so heiß, wie Tally befürchtet hatte - aber der Himmel über dem Schlund war voller Drachen.

Angellas Plan schien nicht aufgegangen zu sein.

Schon am ersten Morgen sahen sie einen der gewaltigen, dreieckigen Schatten am Himmel kreisen, und der Tag war noch nicht zur Hälfte vorbei, als mehr und mehr der riesigen Tiere über ihnen erschienen - zu viele, viel zu viele, als daß es Zufall oder bloße Routine sein konnte. Tally zählte mehr als zwei Dutzend der titanischen Flugechsen, die in unregelmäßigen Spiralen über der Wüste kreisten, manchmal reglos zu verharren schienen, manchmal aber auch so tief auf das Labyrinth aus Felsen und Abgründen herabstießen, daß sie die schwarzgekleideten Gestalten auf ihren Rücken erkennen konnte.

Keiner von ihnen sprach es aus, aber es war klar, was diese plötzliche Änderung in Jandhis Taktik bedeutete: sie suchte sie. Sie, Angella und Hrhon, aber vor allem sie. Und Tally verstand allmählich selbst nicht mehr, warum.

Sicher - sie hatte Jandhi gedemütigt, mehr als einmal, und sie hatte wahrscheinlich mehr ihrer Kriegerinnen getötet als alle Klorschas und Banditen Schelfheims zusammen - und doch war nichts davon Grund genug, einen derartigen Aufwand zu rechtfertigen. Nicht, wenn man bedachte, daß Jandhi ja im Grunde nichts anderes zu tun brauchte, als abzuwarten, bis Tally ganz von selbst zu ihr kam...

Aber auch auf diese Frage fand sie - wie auf so viele - keine Antwort. Und schon bald dachte sie auch nicht mehr darüber nach, denn sie brauchte jedes bißchen Kraft, das sie aufbringen konnte, um am Leben zu bleiben.

Das Gelände wurde schwieriger, mit beinahe jedem Meter, den sie weiter nach Norden kamen. Das Netzwerk aus Rissen und Schründen, das den Boden durchzog, wurde dichter, und gleichzeitig nahmen die Felsen ab - ein Umstand, der besonders tagsüber nicht nur lästig, sondern lebensgefährlich war; denn die Drachen kreisten ununterbrochen am Himmel, und es wurde immer schwieriger, ein Versteck zu finden.

Aber zumindest in einem Punkt hatten sie Glück: keines der zahllosen Raubtiere, vor denen Karan sie gewarnt hatte, griff sie an, ja, sie sahen nicht einmal etwas Lebendes, mit Ausnahme einer riesigen Kreatur, die an einen aufrecht gehenden Haifisch erinnerte, aber hastig die Flucht ergriff, als Hhron einen Stein nach ihr schleuderte.

Und sie waren nicht allein. Tally sprach mit keinem der beiden anderen darüber, aber sie spürte es überdeutlich, und sie war sicher, daß zumindest Hrhon es ebenfalls fühlte: etwas folgte ihnen. Es war kein Zufall, daß die räuberischen Bewohner des Schlundes sie mieden, so wenig, wie es Zufall gewesen war, daß sie den Wipfelwald so vollkommen unbehelligt durchquert hatten.

Irgend etwas war in ihrer Nähe, etwas, das sie schützte.

Und zugleich bedrohte.

Am Morgen der fünften Nacht, die sie sich durch den Schlund geschleppt hatten, lag der Drachenfels vor ihnen.

Es war kein Berg, wie ihn Tally jemals zuvor gesehen hatte, sondern ein Alptraum: ein schwarz und tiefdunkelgrün marmorierter Riesenspeer, den ein tobsüchtiger Gott in den Boden gerammt haben mußte, lotrecht aufsteigend und fünf, sechs, vielleicht noch mehr Meilen hoch. Es gab kein sanftes Ansteigen des Bodens, keine Hänge, sondern nur den Schlund und dahinter den Berg, gerade wie eine Wand in den Himmel ragend und so hoch, daß Tally schwindelte, als sie den Kopf in den Nacken legte, um zu seinem Gipfel hinaufzusehen.