Tally schwieg endlose Sekunden. Sie spürte, daß es Angella ernst war; zum erstenmal, seit sie sich kennengelernt hatten, hatte sie das Gefühl, einer erwachsenen Frau gegenüberzustehen, keinem dummen Kind.
»Du meinst es ernst«, sagte sie.
Angella hob die Hand und deutete auf ihr verbranntes Gesicht. »Du hast mich niemals gefragt, woher ich das hier habe«, sagte sie leise. »Ich war einmal so schön wie du, Tally. Aber Jandhi hat dafür gesorgt, daß ich zu einem Monstrum wurde. Und jetzt sag noch einmal, ich soll gehen.«
Tally sagte es nicht. Statt dessen wandte sie sich an Hrhon und sah den Waga sehr lange und sehr ernst an.
Sie sagte kein Wort, aber der Waga verstand die Frage trotzdem.
»Sssie habhen Essk ghethöhtet«, zischte er.
Es war entschieden. Und aus einem Grund, den Tally selbst nicht verstand, war sie sehr froh. Von allem hatte sie der Gedanke, allein dort hinaufgehen zu müssen, vielleicht am meisten geschreckt. Es war dumm und unlogisch - aber es war ein Unterschied, ob man allein starb oder mit Freunden.
Sie sagte nichts mehr, sondern hob zum zweitenmal den Laser und drückte ab.
Ein dünner, schmerzhaft greller Lichtstrahl sengte eine blendendweiße Narbe in die Nacht und explodierte an der Flanke des Drachenfels. Selbst über eine Entfernung von fast einer Meile konnte sie sehen, wie der Stein in dunklem Rot aufglühte und sich kleine Tropfen geschmolzenen Felsens wie glühende Leuchtkäferchen lösten und in die Tiefe stürzten. Sie verlöschten, lange bevor sie den Boden erreichten.
Tally schoß ein zweites Mal, und ein drittes und viertes und fünftes und sechstes Mal, immer und immer wieder, bis die Waffe in ihrer Hand überhitzt war und nur noch ein protestierendes Summen ausstieß. Dann ließ sie die Waffe einfach fallen, drehte sich herum und hob abwehrend die Hand, als Angella neben sie trat.
»Bleibt hier«, sagte sie. »Und wehrt euch nicht, wenn sie kommen.«
»Wohin gehst du?« fragte Angella.
»Nicht sehr weit.« Tally lächelte, wandte sich an Hrhon und deutete erst auf ihn, dann auf Angella. »Gib acht, daß sie mir nicht folgt«, sagte sie. »Ich bin bald zurück.«
Sie ging, ehe Angella eine weitere Frage stellen konnte. Ihre Zeit lief ab. Wahrscheinlich blieben ihnen jetzt nur noch Minuten.
Über dem ausgetrockneten Ozean dämmerte der Morgen, aber hier unten, auf seinem Grunde, war die Nacht noch immer tief genug, Angella und Hrhon schon nach wenigen Schritten zu verschlucken. Tally wußte nicht, wie weit sie ging, aber sie spürte, daß es nicht sehr weit sein konnte. Sie waren in ihrer Nähe, und sie mußten so gut wie sie selbst wissen, wie wenig Zeit ihnen blieb; nur wenige Minuten, bis Jandhi und ihre Drachen kamen.
Aber die Zeit würde reichen. Was Tally verstehen konnte, wußte sie jetzt, und was es darüber hinaus noch gab, konnte sie nicht verstehen. Es gab nichts zu erklären. Eine tiefe, unnatürliche Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, eine Art von psychischer Lähmung, die ihren Ursprung nicht in ihr selbst hatte, sondern von außen kam.
Trotzdem begann ihr Herz vor Schrecken zu hämmern, als sie die beiden Schemen vor sich sah. Sie blieb stehen.
Ganz instinktiv blickte sie noch einmal nach oben, zum Gipfel des Drachenfelsens empor. Aber der Himmel war noch leer.
»Du hast dich also entschieden.«
Es war der größere der beiden Schemen, der sprach. Er bewegte sich, kam auf eine fürchterliche, mit Worten nicht zu beschreibende Weise auf sie zu und erstarrte wieder zur Reglosigkeit, als er spürte, wie sehr sein Anblick Tally erschreckte. Sein Gesicht war das Wellers, und gleichzeitig das etwas von anderem, etwas unbeschreiblich Fremdem, Entsetzlichem, dessen bloßer Anblick Tally aufstöhnen ließ.
Es war Weller - der gleiche Weller, der sie in jener Nacht vor fünf Tagen zum Wasser geführt hatte, der die beiden Drachenreiterinnen getötet und sie und die beiden anderen sicher hierher geführt hatte. Gleichzeitig war es eine boshafte Karikatur Wellers, ein entsetzliches Ding, überlebensgroß, breiig, aufgequollen, hier und da zerlaufen wie weiches Wachs in der Sonne, eingesponnen in ein bleiches, pulsierendes Netz wie aus Spinnseide, nur viel feiner, und lebend...
»Warum?« fragte sie einfach.
»Es gibt kein Warum«, antwortete Weller. »Sie und wir sind Feinde. Wir waren es immer. Du weißt, was getan werden muß.«
Tally nickte. Plötzlich war ihr kalt. Was, dachte sie, wenn sie das Feuer mit einem Vulkanausbruch löschte?
Vielleicht brachte sie einen zweiten, sehr viel größeren Schrecken auf die Welt. Dann lächelte sie über ihre eigenen Gedanken. Es war nur der Mensch in ihr, der diese Furcht spürte, das alberne dumme Wesen, das sich einbildete, seine Existenz wäre irgendwie wichtig.
»Du hast gewählt?« fragte Weller. Auch die zweite Kreatur bewegte sich jetzt, kam näher. Im ersten Moment war ihr Gesicht nicht mehr als eine glatte, totenbleiche Fläche, dann bildeten sich Mund, Nase und Augen. Karan. Tally sah weg.
»Ich habe gewählt«, sagte sie.
»Und wer soll es sein?« Das Etwas, das einmal Weller gewesen war, kam näher. Tally schauderte. Widerwillen ergriff sie, ein unbeschreiblicher Ekel, auch nur in der Nähe dieses entsetzlichen Dinges zu sein, das alles war, nur nicht mehr Weller.
»Warum ich?« stöhnte sie, wie unter Schmerzen. »Warum nicht Karan oder... oder einer der anderen, die vor mir hierher kamen?«
»Karan war unser Bote«, erwiderte das Weller-Ding. »Und du, weil du da warst. Wir haben auf dich gewartet, sehr lange. Auf jemanden wie dich. Alle anderen waren Narren, die gescheitert wären.«
Tally erschrak, als sie begriff, was die Worte der Kreatur bedeuteten. »Dann... dann hätte ich es auch...«
»Ohne unsere Hilfe geschafft?« Weller schüttelte den Kopf. Das weiße Gespinst, das ihn umgab, raschelte wie ein Totenhemd. »Nein. Vielleicht bis hierher. Vielleicht. Doch nicht weiter.«
Er schwieg einen Moment. Dann deutete seine schreckliche fingerlose Hand in den Himmel. Tallys Blick folgte der Geste. Sie sah den titanischen dreieckigen Schatten, der sich von der Spitze des Drachenfelsens löste und in die Tiefe zu gleiten begann, dann einen zweiten, dritten...
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Weller. »Du hast dich entschieden? Wer von beiden? Angella, oder Hrhon?«
»Keiner«, sagte Tally.
Das entsetzliche Ding kroch und glitt ein weiteres Stück auf sie zu. Seine Hände waren jetzt nicht mehr weit von ihrem Gesicht entfernt. Tally unterdrückte nur noch mit letzter Kraft den Impuls, sich einfach herumzudrehen und davon zulaufen.
»Du weißt, daß wir ein Opfer verlangen«, sagte Weller. »Nur so kann deine Rache vollzogen werden. Wer also? Die Frau oder der Waga.«
»Keine von beiden«, sagte Tally noch einmal. Großer Gott, warum fiel es ihr so schwer, zu sprechen?
»Dann willst du...?«
»Mich«, sagte Tally. »Nehmt mich!«
Und sie nahmen sie.
Die beiden Drachen landeten, als sie zu Angella und Hrhon zurückkam. Der Waga hatte sich hinter einen Felsen geduckt und Angella an sich gepreßt; er hielt die Beine leicht gespreizt, um festen Stand zu haben, und hatte den Kopf fast zur Gänze in seinen Panzer zurückgezogen. Trotzdem schwankte er als die beiden gigantischen Kreaturen weniger als zwanzig Schritte neben ihm den Boden berührten.
Die Erde bebte. Für einen Moment schien die Nacht zurückzukehren, als die Drachen ein letztes Mal ihre gigantischen Schwingen entfalteten, und der künstliche Sturmwind trieb auch Tally noch einmal zwischen die Felsen zurück, in deren Schutz sie stehengeblieben war, um Jandhis Ankunft zu beobachten. Staub und kleine Kiesel überschütteten sie wie Hagel. Die Luft war erfüllt vom Reptiliengestank der Drachen.
Tally drehte das Gesicht aus dem Sturm, hob schützend die Hand über den Kopf und blinzelte aus zusammengepreßten Augen zum Himmel hinaus. Über ihr, so dicht, daß sie fast meinte, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können, kreisten zwei weitere Drachen, und eine oder anderthalb Meilen darüber ein weiteres Paar der geflügelten Reptilien. Jandhi überließ nichts mehr dem Zufall. Gut.