»Ich werde mich wohl nie an sie gewöhnen«, sagte sie lächelnd. »Verrückt, nicht - sie sind die treuesten Verbündeten, die ich mir wünschen kann, und gleichzeitig fürchte ich sie.«
Sie sah Tally an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Antwort, zuckte schließlich die Schultern und setzte sich auf einen der niedrigen, unbequem aussehenden Stühle.
Ihre Hand machte eine einladende Geste, aber Tally rührte sich nicht.
»Es geziemt sich nicht für eine Sklavin, neben den Herren zu sitzen«, sagte sie böse.
Jandhi seufzte. Aber die scharfe Antwort, mit der Tally rechnete, kam auch jetzt nicht. Ganz im Gegenteil trat ein Ausdruck von Trauer in ihren Blick. »Du verstehst noch immer nicht«, sagte sie. »Du bist so wenig mein Sklave, wie ich dein Feind bin. Wir haben gegeneinander gekämpft, und du hast verloren.«
»Bist du sicher?« fragte Tally.
Jandhi nickte. »Es gibt keinen Grund mehr für dich, den Kampf fortzuführen. Alles, was du erreichen könntest, wäre dein eigener Tod. Du warst gut, Tally, aber nicht gut genug für uns. Niemand ist das.« Sie sprach sehr ruhig, und fast ohne Gefühl. Ihre Worte waren eine Feststellung, keine Drohung, und schon gar keine Angabe. Und vielleicht hatte sie recht.
»Möglich.« Tally zuckte mit den Achseln. »Aber vielleicht kommt irgendwann doch jemand, der -«
»Der uns gewachsen ist?« Jandhi lachte. »Niemals, Tally. Die Töchter des Drachen, das sind nicht nur ich und die, die du hier siehst. Es gibt Tausend von uns, überall auf der Welt, an Hunderten von Orten. Selbst wenn es dir gelungen wäre, diese Festung zu zerstören, hättest du nichts erreicht.«
Tally starrte sie an; schwieg. Sie spürte, daß Jandhi auf eine ganz bestimmte Reaktion wartete; vermutlich ein Frage- und Antwortspiel beginnen wollte, in dem ihre und Tallys Rollen von vorn herein festgelegt waren. Tally tat ihr den Gefallen nicht.
»Warum haßt du uns so?« fragte Jandhi schließlich. Sie hob die Hand, als Tally antworten wollte, und fügte hinzu: »Sag jetzt nicht, daß wir deine Eltern getötet oder deine Heimatstadt verbrannt haben. Das ist nicht der wahre Grund. Viele hassen uns, weil wir für den Tod ihrer Freunde oder Verwandte verantwortlich sind, aber das ist es nicht. Dein Haß hat einen anderen Grund. Einen, der tiefer geht. Sag ihn mir.«
Wie zur Antwort schien sich irgend etwas in Tally zu rühren, etwas Mächtiges und Altes und ungeheuer Starkes, von dem sie bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es da war. Aber sie ließ sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken, sondern starrte Jandhi nur weiter an; so kalt und gleichzeitig so voller Verachtung, wie sie nur konnte. »Warum sollte ich?«
»Ich kenne die Antwort«, behauptete Jandhi. »Aber ich möchte sie aus deinem Mund hören.«
Tally schwieg, und wie sie erwartet hatte, fuhr Jandhi nach einer Weile von selbst fort:
»Also gut, dann werde ich es dir sagen - verbessere mich, wenn ich einen Fehler mache. Deine Heimat war Stahldorf, nicht wahr?«
Diesmal gelang es Tally nicht mehr vollends, ihre Überraschung zu verbergen. Sie nickte. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß alles über dich«, antwortete Jandhi. Sie setzte sich bequemer hin, soweit dies auf dem metallenen Hocker überhaupt möglich war, schlug die Beine übereinander und sah Tally sehr lang und nicht einmal auf unfreundliche Weise an.
Tally ihrerseits fragte sich, wieviel Zeit ihr noch blieb - sie war schon sehr lange in diesem verdammten Berg, und sie wußte noch immer nicht, wo ihr wahrer Feind eigentlich zu finden war. Sie wußte nicht einmal, wie er aussah; sie spürte nur, daß Jandhi und ihre Schwestern es nicht waren. Und daß sie ihn erkennen würde, wenn sie ihm gegenüberstand.
»Wir wissen alles über dich«, sagte Jandhi noch einmal. »Vielleicht mehr als du selbst. Nach dem Angriff auf den Turm haben wir begonnen, Erkundigungen über dich einzuziehen.« Sie lächelte flüchtig. »Es war nicht leicht«, gestand sie. »Du hast deine Spur gut verwischt. Aber eine Frau und ein Waga, die allein durch die Welt ziehen, bleiben nicht lange unentdeckt. Du stammst also aus Stahldorf. Du warst die einzige Überlebende, nicht?«
»Die einzige, die Hraban am Leben gelassen hat, ja.«
Jandhi runzelte flüchtig die Stirn, aber sie ging nicht weiter auf Tallys Bemerkung ein. »Du hast ihn geheiratet«, stellte sie fest. »Warum?«
»Warum fragst du, wenn du alles weißt?«
»Weil ich versuchen möchte, dich zu verstehen«, antwortete Jandhi. »Du hast den Mann geheiratet, der dein Dorf niedergebrannt hat. Einen Mann, der in unseren Diensten stand. Wußtest du, daß wir deine Sippe ausgelöscht haben?«
Tally wußte es nicht, aber es überraschte sie auch nicht. Sie schwieg.
»Du warst klug«, gestand Jandhi. »Nach dem Gemetzel, das du im Turm angerichtet hattest, starteten wir eine Strafexpedition gegen deine Sippe. Wir haben ihr Dorf verbrannt und sie ausgelöscht - alle.« Sie seufzte. »Ein Fehler, wie ich jetzt weiß. Du hast sie von Anfang an nur benutzt, nicht wahr? Du hast Hraban nicht aus Liebe geheiratet, sondern nur, um sein Vertrauen zu erringen.«
»Es war der einzige Weg, um an euch heranzukommen«, antwortete Tally. Sie wollte nicht reden, denn sie spürte, daß Jandhi nun doch erreichte, was sie vorgehabt hatte - sie in eine Lage zu manövrieren, in der sie hilflos war.
Schon jetzt war sie halb in die Defensive gedrängt.
Aber sie konnte auch nicht schweigen. Es war zu viel. Sie hatte all dies zu lange mit sich herumgetragen, ihren Haß zu lange geschürt, ja, ihn beschützt wie einen Schatz, weil er das einzige war, das sie noch am Leben erhalten hatte. Und jetzt stand sie einer der Frauen gegenüber, der dieser Haß galt. Sie konnte einfach nicht mehr schweigen.
»Ja!« schrie sie. »Ich wollte sein Vertrauen erringen! Ich habe ihn geheiratet, weil ich ihn benutzen wollte - und? Du und deine Drachen, ihr habt mir alles genommen, was ich hatte. Ich habe Hraban meinen Körper gegeben, weil ich ihm nichts anderes geben konnte? Und? Findest du das unmoralisch?«
Das letzte Wort hatte sie auf eine Art ausgesprochen, die Jandhi zusammenfahren ließ. Aber sie schwieg, und Tally fuhr, noch immer sehr erregt und halbwegs schreiend, fort: »Ich habe geschworen, euch zu vernichten. Damals, als ich aus dem Wald trat und meine Heimatstadt brennen sah, habe ich es geschworen, Jandhi, und ich -«
»Und du hast Hraban und seine Sippe benutzt, diesen Schwur zu halten«, unterbrach sie Jandhi, nun ebenfalls zornig. »Die Menschen, bei denen du aufgewachsen bist. Die dir Heimat und Familie waren, Tally! Sie haben dich aufgenommen, als du niemanden mehr hattest! Und sie sind tot, durch deine Schuld.«
»Menschen?« Tally spie das Wort hervor wie eine Obszönität. »Menschen, Jandhi? Sie waren Mörder, schlimmer als die Tiere. Hrhon und Essk sind für mich tausendmal mehr Menschen als Hrabans Mordgesindel.«
»Du hast dazugehört!« sagte Jandhi scharf. »Nach Hrabans Tod hast du die Sippe geführt. Du warst es, der an seiner Stelle Städte und Dörfer niederbrennen ließ! Wie viele gibt es jetzt wohl, die dich hassen, so wie du Hraban gehaßt hast?«
»Viele«, antwortete Tally ungerührt. »Aber es mußte sein. Anders wäre ich nicht an euch herangekommen.«
»Und uns wolltest du ja haben!«
»Ja, das wollte ich!« schrie Tally. »Euch. Ich... ihr Ungeheuer! Ihr beherrscht diese Welt! Ihr führt euch auf wie die Götter, und ihr vernichtet jeden, der es wagt, euch zu widersprechen.«
»Und du hast dich niemals gefragt, warum?«