»Was redest du nur!« fuhr Talianna auf. »Wir sind in Sicherheit, Gedelfi. Hrabans Männer werden sich um uns kümmern, und... und ich bin ja auch bei dir!«
Hilfesuchend wandte sie sich an den Söldnerführer.
»Sagt doch auch etwas, Hraban«, sagte sie.
Hraban blickte sie an, aber etwas war in seinen Augen, was Taliannas Schrecken eher noch schürte. »Das ist etwas, worüber ich mit dir reden muß«, sagte er. Er deutete auf Gedelfi. »Du magst diesen alten Mann, nicht wahr? Und er braucht dich.«
»Ja«, antwortete Talianna zornig. Hrabans Art, über Gedelfi zu reden, machte sie zornig. Er sprach von dem Blinden wie von jemandem, der nicht hören konnte, daß man über ihn sprach. Sein Verhalten war zumindest unhöflich, wenn nicht verletzend. »Warum fragt Ihr?«
»Weil wir einen alten und noch dazu blinden Mann wie ihn nicht mitnehmen können«, erwiderte Hraban.
»Er wäre eine zu große Last für uns. Ganz davon abgesehen, daß ihn das Leben, das wir führen, binnen einer Woche umbrächte.«
»Ich... ich verstehe nicht«, murmelte Talianna. »Was meint Ihr damit - nicht mitnehmen? Wollt Ihr ihn denn hier zurücklassen?«
Gedelfi schnaubte. »Er meint damit, daß -«
»Ich meine«, fiel ihm Hraban mit leicht erhobener Stimme und sehr rasch ins Wort, »daß ich nachgedacht habe, über dich und deine Leute, Talianna. Du sagst, deine Familie ist tot. Von diesen Leuten hier ist niemand mit dir verwandt?«
Talianna verneinte, und wieder blickte Hraban sie eine endlose Sekunde lang an. »Ich kann nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ein Teil meiner Leute wird noch hierbleiben und tun, was zu tun ist, aber ich muß fort, und zwar noch heute. Was würdest du davon halten, mit mir zu kommen?« fragte er dann geradeheraus.
»Mit... mit Euch kommen?« wiederholte Talianna verwirrt. »Wieso? Ich... ich meine... was... weshalb...« Sie begann zu stammeln, brach ab und sah beinahe flehend zu Gedelfi; aber natürlich bemerkte der Blinde ihren Blick nicht.
»Mit Euch kommen?« wiederholte sie schließlich noch einmal.
»Warum nicht?« sagte Hraban. »Was gibt es hier noch, was das Bleiben für dich lohnte. Niemand wird hierbleiben, und ein zehnjähriges Mädchen ohne Verwandte oder Freunde hat kein sehr angenehmes Leben zu erwarten. Nicht in einem Land wie diesem. Außerdem«, fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu, »muß ich gestehen, daß du mir gefällst. Ich hatte einmal eine Tochter, die dir sehr ähnlich war, in deinem Alter.«
»Oh«, murmelte Talianna betreten. »Das... das tut mir leid. Woran ist sie gestorben?«
Hraban lachte schallend. »Gestorben? An nichts. Sie lebt und erfreut sich bester Gesundheit, Kind. Aber sie hat einen haarigen Tagedieb aus dem Süden geheiratet und ein halbes Dutzend lärmender Bälger mit ihm bekommen, und ich habe sie davongejagt.« Er beugte sich vor. »Also? Hättest du Lust? Unser Leben ist sicher nicht so bequem und ruhig wie das, das du gewohnt bist, aber dafür spannender. Ich kann dir eine Menge Dinge zeigen, von denen du bisher nicht einmal geträumt hast.«
Einen Moment lang war Talianna ernsthaft in Versuchung, Hrabans Vorschlag anzunehmen, denn der Schmerz über den Verlust ihrer Familie und ihrer Heimat war noch zu frisch, als daß jene Phase betäubenden Kummers eingesetzt hätte, in der einem jegliche Zukunft gleichgültig läßt und das Leben nicht mehr lebenswert erscheint. Außerdem war sie zehn Jahre alt. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf und rückte ein Stück näher an Gedelfi heran.
»Nein«, sagte sie. »Ich bleibe bei Gedelfi. Er braucht mich.«
Aber in diesem Moment geschah etwas Sonderbares.
Der Blinde entzog ihr abermals seine Hand und schob sie gar ein Stück von sich fort, und obgleich seine Augen seit zwei Jahrzehnten nur ewige Nacht gesehen hatten, wurde ihr Blick so stechend, daß selbst Hraban plötzlich unsicher wurde. »Du meinst das so, wie du es sagst«, sagte er.
Hraban nickte. »Ja. Ich mag das Mädchen. Wofür hälst du mich, Alter?«
»Für das, was du bist«, antwortete Gedelfi. »Ein hübsches Kind wie sie erzielt einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt.«
Die Beleidigung ließ Hraban erbleichen. »Glaubst du, ich würde sie bitten, mitzukommen, wenn es so wäre?« fuhr er auf. »Ich sehe niemanden, der mich daran hindern könnte, sie einfach mitzunehmen.« Er ballte die Faust und schlug sich wuchtig auf den Oberschenkel.
»Spring in den Schlund, Alter! Ich habe es nicht nötig, mit einem alten Narren zu schachern.«
»Nein«, antwortete Gedelfi, mit einem Male wieder ganz ruhig. »Das hast du nicht, Hraban.« Er legte die Hand auf Taliannas Schulter und schob sie ein Stück auf Hraban zu. »Nimm sie mit.«
Im allerersten Moment war Talianna so überrascht, daß sie Gedelfi nur mit offenem Mund anstarrte. Dann ergriff sie Zorn. Wütend schüttelte sie seine Hand ab und rutschte noch ein Stück weiter von ihm fort. Was fiel diesen beiden ein, wie um ein Stück Eisen um sie zu feilschen?
»Ich werde nirgendwo hingehen!« protestierte sie. »Ich -«
»Du wirst den Mund halten und tun, was ich dir sage!« Gedelfis Stimme war so scharf und befehlend, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte. Taliannas gerechter Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war, und zurück blieben Unsicherheit und Verwirrung.
»Aber du... du brauchst mich!« sagte sie. »Was willst du ohne mich anfangen?«
»Ich brauche dich?« Gedelfi lachte abfällig. »Was bildest du dir ein, du dummes Kind? Ich brauch dich ungefähr so dringend wie einen Kropf, oder ein Geschwür am Hintern.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte Talianna nicht härter treffen können. Entsetzt starrte sie Gedelfi an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber wir... wir sind doch immer Freunde gewesen«, jammerte sie. »Ich habe dir doch immer geholfen, und du -«
»Geholfen?« Gedelfi machte ein abfälliges Geräusch. »Auf die Nerven gegangen bist du mir, mit deinen dummen Fragen. Manchmal warst du ganz nützlich, das stimmt. Aber das heißt nicht, daß ich dich noch länger ertragen muß.«
Talianna begann zu weinen. Irgendwo in ihr war eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Gedelfi sie absichtlich verletzte, um ihr die Entscheidung zu erleichtern, und sie wußte einfach, daß es ganz und gar nicht so gewesen war, wie er behauptete. Aber dieses Wissen nutzte wenig. Seine Worte taten weh. Verdammt weh.
Und nach einer Weile stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging zu Hraban. Noch am gleichen Abend verließen sie das zerstörte Dorf an der Flußbiegung für immer.
»Das... ist aber eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen.
Seit langer Zeit waren es die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Die Frau hatte geredet, mit sehr ruhiger, sehr sanfter Stimme, in der etwas von der Trauer mitklang, die das Mädchen selbst verspürte; ein Schmerz, der viel zu gewaltig war, als daß es sein wahres Ausmaß jetzt schon begreifen konnte. Danach hatten sie beide geschwiegen, fast ebenso lange, und auch dieses Schweigen war voller Trauer gewesen.
Jetzt nickte die fremde Frau. Wieder hob sie die Hand und berührte die des Mädchens, und diesmal fuhr das Kind nicht unter der Berührung zusammen, sondern erwiderte den Händedruck der Fremden sogar. Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie konnte es nicht.
»Das ist es«, bestätigte die Frau. Sie lächelte. Das Mondlicht zauberte Schatten auf ihre Züge, die sie älter erscheinen ließen, als das Mädchen sie bisher eingeschätzt hatte. Vielleicht so alt, wie sie war. »Sie ähnelt deiner, bis hierhin wenigstens. Auch du bist die letzte Überlebende.«
»Die Letzte?« Das Mädchen blinzelte, drehte den Kopf und blickte zu den Ruinen der brennenden Stadt zurück. Über den Trümmern hing noch immer ein roter Hauch, und mit dem Wind wehte Brandgeruch herbei.