Nicht, daß sie es wirklich begriff. Es war vermutlich unmöglich. Jandhi erzählte Dinge von einer Größe und Tragweite, die sie so rasch gar nicht verarbeiten konnte.
Aber sie begriff zumindest, worauf sie hinauswollte.
»Und du glaubst, ihr könntet den zehnten Krieg verhindern?« fragte sie. »Indem ihr die menschliche Rasse beaufsichtigt?«
»Beschützt«, verbesserte sie Jandhi. »Wir schützen sie vor sich selbst. Der letzte, der neunte Krieg, war der Entsetzlichste. Fast alles wurde zerstört. Diese Welt wurde unbewohnbar, für Hunderte von Jahren. Damals verschwanden die Meere, Tally, und neunundneunzig von hundert Tier- und Pflanzenarten. Nur sehr wenige Orte - wie diese Insel hier - blieben verschont, und das Leben brauchte hunderttausend Jahre, die Welt zurückzuerobern. Eine Welt, die verbraucht war. Es gibt keine Bodenschätze mehr, kaum mehr Wasser, kaum mehr bewohnbares Land. Der zehnte Krieg, Tally, wäre der letzte.«
»Und du glaubst, er käme, wenn du den Menschen erlaubst, Stahl zu schmieden?«
»Nein«, antwortete Jandhi. »Aber nach dem Stahl kommt die Dampfmaschine, nach ihr die Elektrizität, und dann die Bomben. So war es immer. Unsere Rasse hat neun Chancen gehabt, Tally. Sie hat sie verspielt.«
»Und du sorgst dafür, daß sie keine zehnte bekommt, wie?« fragte Tally böse. »Was bist du! Gottes rechte Hand?«
Jandhi preßte wütend die Lippen aufeinander. Aber wieder blieb die zornige Antwort aus, auf die Tally wartete. Statt dessen schüttelte sie nur den Kopf. »Wir haben eine zehnte Chance«, sagte sie. »Unsere Aufgabe wird bald beendet sein, auch wenn keiner von uns dieses Ende noch erleben wird. Die Drachen und wir sind die Hüter, Tally, mehr nicht. Wir geben acht, daß die Menschen nicht noch einmal den falschen Weg gehen. Die Technik vermag Wunder zu wirken, aber sie ist der falsche Weg. Sie führt nur in den Tod.«
»Benutzt ihr sie deshalb?«
Jandhi seufzte. »Wir würden es nicht tun, wenn wir es nicht müßten«, antwortete sie. »Und wir werden sie aufgeben, sobald wir sie nicht mehr brauchen. Unser Plan mag dir grausam erscheinen, aber er ist richtig. Der Tag wird kommen, an dem der Mensch wieder diese Welt beherrscht.«
»Und er wird schwarzes Leder tragen und auf Drachen reiten, wie?« fragte Tally böse.
»Die Drachen sind nur Werkzeuge«, sagte Jandhi ruhig. »Wie wir. Sie wurden eigens für diesen Zweck erschaffen, und sie werden verschwinden, wenn es nichts mehr gibt, worüber sie wachen müßten. Nach dem letzten Krieg, Tally, begriff eine kleine Gruppe der Überlebenden, daß der Mensch niemals wieder eine technische Zivilisation entwickeln durfte. Sie... sie hatten nur noch einen Bruchteil ihrer alten Macht, und doch reichte dieses Wenige, die Drachen zu erschaffen, die Hornköpfe, uns -«
»Euch?«
Jandhi lächelte flüchtig. »Nicht uns in Person, natürlich. Einige wenige von uns mögen noch direkte Nachkommen der Überlebenden von damals sein, aber die meisten sind Männer und Frauen wie du und ich. Aber sie erschufen die Töchter des Drachen, und sie schufen die Gesetze der Götter, wonach es dem Menschen verboten war, etwas wider die Natur zu tun. Sie zeigten uns den richtigen Weg.«
Tally dachte an brennende Städte und schwieg, aber Jandhi schien ihre Gedanken deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. »Es klingt grausam, ich weiß«, sagte sie. »Aber es mußte sein. Wir schufen die Gesetze, und wir sorgen dafür, daß sie eingehalten werden. Wo immer man sie bricht, tauchen die Drachen auf und ersticken das Gift im Keim, das unserer Rasse schon neunmal das Verderben gebracht hat. Und Männer wie Hraban - und Frauen wie du, die in unseren Diensten stehen, vernichten das, was wir übersehen.«
»Ist das euer großartiger Plan?« fragte Tally wütend. »Dafür zu sorgen, daß Menschen nie wieder so leben können?« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das Bild.
»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Jandhi hart. »Aber eine neue Zivilisation entsteht bereits, Tally. Du hast sie gesehen, in Schelfheim und all den anderen Städten, durch die du gekommen bist. Der Mensch hat gelernt, mit der Natur zu leben.« Sie lächelte. »Sie haben gelernt, die Gesetze der Götter zu beachten und sich zu arrangieren. Von Generation zu Generation werden es weniger, die glauben, sich gegen das Schicksal auflehnen zu können. Ich werde dir unsere Aufzeichnungen zeigen, Tally, später. Du wirst es selbst sehen. Der Tag wird kommen, an dem unsere Drachen nicht mehr fliegen müssen.«
»Ja«, sagte Tally böse. »Weil es dann niemanden mehr gibt, den sie umbringen könnten!«
Jandhi blieb ernst. »Du wirst mich verstehen«, sagte sie. »Du wirst es begreifen, so, wie ich es einsah, und alle anderen vor mir. Unsere Vorfahren haben nach den Sternen gegriffen und dabei das Leben vergessen. Diese Welt ist groß genug für unser Volk. Wir brauchen keine anderen. So wenig, wie wir Maschinen brauchen oder die Wissenschaft. Die menschliche Rasse hat lange gebraucht, dies zu begreifen, aber sie ist auf dem richtigen Weg. Gib ihnen noch ein wenig Zeit, und sie werden so mächtig und reich sein wie unsere Vorfahren.«
Und vielleicht hatte sie sogar recht, dachte Tally. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt, und der Weg, der mit dem Schmelzen von Stahl begann, konnte wirklich nirgendwo anders enden als im Tod.
Und trotzdem...
Etwas war falsch. Tally wußte nicht, was, oder woher dieses Wissen kam, aber sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß Jandhi ihr noch immer nicht alles erzählt hatte. Etwas - ein vielleicht kleiner, aber entscheidender Teil der Geschichte - fehlte noch.
»Ein wenig Zeit«, murmelte sie. »Wie lange? Tausend Jahre? Zehntausend?«
»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Jandhi. »Aber es wird schneller gehen.«
Aber es war falsch! dachte Tally entsetzt. Begriff sie das denn nicht? Sie und ihre Schwestern waren keine Götter!
Woher nahmen sie das Recht, dem Schicksal ins Handwerk pfuschen zu wollen?
»Ihr wollt also weitermachen«, sagte sie leise. »Ihr wollt damit fortfahren, Menschen zu töten, die nichts anderes tun, als ein wenig bequemer leben zu wollen. Ihr wollt weiter Städte niederbrennen, deren Bewohner sich nichts anderes zuschulden kommen lassen als -«
»Du verstehst noch immer nicht«, unterbrach sie Jandhi. »Wir -«
»Nein, und ich will es auch gar nicht verstehen!« sagte Tally. »Du denkst wirklich, du könntest mich überzeugen? Du denkst wirklich, ich würde bei diesem Wahnsinn auch noch mitmachen?«
»Ich weiß es«, erwiderte Jandhi, und sie sagte es mit einer Ruhe, die Tally einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich weiß es, Talianna, weil ich vor sehr vielen Jahren wie du in diesem Raum gestanden und den gleichen Worten gelauscht habe. Ich hätte mir all dies sparen können, aber ich wollte, daß du die Wahrheit kennst, ehe ich dich zu ihr bringe.«
»Ihr?« Tally spannte sich. »Wen meinst du?«
Aber Jandhi antwortete nicht. Statt dessen klatschte sie in die Hände. Die Tür in Tallys Rücken wurde aufgestoßen, und das Klicken harter Insektenfüße war zu hören.
Sie spürte die Anwesenheit der beiden Hornköpfe, ohne sich zu ihnen herumdrehen zu müssen. Tally hatte die halbintelligenten Rieseninsekten niemals gemocht, aber sie hatte noch nie eine derart heftige, körperliche Abneigung verspürt wie in diesem Augenblick. Es war, als wäre mit den beiden Kreaturen das Böse selbst in den Raum getreten.
»Folge mir«, befahl Jandhi.
Je tiefer sie in der Berg eindrangen, desto intensiver wurde das Gefühl, sich dem Bösen zu nähern. Tally fror und gleichzeitig war sie in Schweiß gebadet. Die Nähe der beiden titanischen Kampfinsekten erfüllte sie mit körperlichem Unbehagen, ja, beinahe mit Schmerz, und das Gefühl wurde heftiger, je weiter sie sich dem Herzen der Drachenstadt näherten.