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Sie hatte Jandhi zweimal gefragt, wohin sie sie brachte, und zweimal keine Antwort darauf erhalten. Aber ihr fiel auf, daß Jandhi jetzt mehrere Schritte vor ihr ging und auch darauf achtete, diesen Abstand einzuhalten, und daß die beiden Hornköpfe ein wenig dichter zu ihr aufgeschlossen hatten, als eigentlich nötig war. Es wurde dunkler. Die Zahl der Lampen nahm ab, und sie begegneten niemandem mehr, weder Mensch noch Hornkopf.

Tally hatte Angst. Angst vor dem, was sie in der Tiefe erwarten mochte, wer diese sie war, von der Jandhi gesprochen hatte, Angst vor dem finsteren Herz der Drachenstadt - denn genau das war es, worauf sie sich zubewegten: ein gewaltiges, durch und durch böses Herz. Der Feind. Das absolut Böse in Person.

Was waren das für Gedanken? dachte sie verwirrt.

Plötzlich war Wissen in ihr, Wissen oder plötzlich ein an Wissen grenzendes Ahnen, daß sie nicht haben konnte.

Irgend etwas in ihr zog sich zusammen, schreckte zurück vor dem Ding, das da in der Tiefe lauerte, uralt und mächtig verwundbar, aber bisher unerreichbar für...

Und plötzlich begriff sie, daß es nicht ihre Gedanken waren. Es war das Ding in ihr, das Weller (Weller?) ihr mitgegeben hatte, Gäas mörderisches Geschenk an ihre uralte Gegenspielerin.

Gäa... Die Urmutter, Hüterin allen Lebens. Welcher Hohn! Die Bestie dort draußen war so fremd und tödlich wie das Ding, das diesen Berg beherrschte, und so wenig auf ihrer Seite wie Jandhi und ihre Schwestern.

Tally versuchte sich vorzustellen, wo dies alles enden mochte, aber es gelang ihr nicht. Irgend etwas in ihr, der Teil, der noch Mensch war, schreckte vor dem bloßen Gedanken zurück; so heftig, daß sie nur mit Macht einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Schließlich betraten sie einen Teil des Höhlenlabyrinths, der kaum mehr Spuren einer künstlichen Bearbeitung aufwies. Die Lampen mit ihrem unangenehmen weißen Licht waren längst hinter ihnen zurückgeblieben; nur hier und da blakte noch eine Fackel in einem eisernen Halter an der Wand, und die Kälte hatte einer stickigen, unangenehm feuchten Wärme Platz gemacht.

Ein Geruch wie nach faulenden Pflanzen schlug ihnen entgegen, und auf dem Boden lag Staub, manchmal so hoch, daß sie bis an die Knöchel in der flockigen grauen Decke versank. Jandhi hustete von Zeit zu Zeit, und irgend etwas, sehr sehr weit vor ihnen, nahm diesen Laut auf und warf ihn zurück, sonderbar gebrochen und verzerrt, als klänge noch etwas anderes, Böses darin mit.

Tally vesuchte vergeblich, die Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, die ihr Bewußtsein überschwemmten.

Das Etwas in ihr wurde stärker, mit jedem Schritt, dem sie sich dem unsichtbaren Feind näherten. Weller hatte gelogen, als er gesagt hatte, sie könnten sie bis Sonnenuntergang schützen; vielleicht hatte er sich auch schlichtweg geirrt. Aber es war gleich. Nichts spielte jetzt noch eine Rolle. Sie war am Ziel.

Sie blieben erst stehen, als sie nach Tallys Schätzung schon sicherlich wieder den halben Weg zum Schlund hinabgestiegen waren. Des letzte Licht war längst über ihnen zurückgeblieben, aber einer der Hornköpfe hatte im Vorübergehen eine Fackel aus einem der Wandhalter mitgenommen, so daß sie sich im Zentrum eines flackernden, ständig seine Form verändernden Kreises blasser roter Helligkeit bewegten.

Manchmal mußten sie durch knöcheltiefe Pfützen aus faulig riechendem Wasser waten, das aus Rissen in der Decke tropfte, dann wieder wurde es so heiß, daß Tally kaum mehr atmen konnte und ihr Gesicht brannte. Die Wände hier unten waren nicht bearbeitet, sondern irgendwann, vielleicht schon vor Jahrmillionen, durch eine Laune der Natur entstanden; gleichzeitig erinnerten sie Tally an übergroße Wurmgänge, und ein Teil ihrer Phantasie, über den sie irgendwie die Kontrolle verloren hatte, gaukelte ihr schwarze, sich windende schlangenähnliche Dinge vor, die die Dunkelheit vor ihr erfüllten, aber stets verschwanden, ganz kurz, bevor das Licht der Fackel sie berühren konnte.

Aber dann war es nur eine ganz normale, wenn auch außergewöhnlich große Tür, vor der sie stehenblieben, eine Tür aus geschwärztem Eisen, an dem der Rost seit Jahrtausenden fraß, ohne ihm ernsthaft Schaden zufügen zu können. Tally erwartet, daß Jandhi klopfen oder sich anders bemerkbar machen würde, aber sie tat nichts dergleichen, sondern blieb einfach reglos stehen.

Und es dauerte auch nur ein paar kurze Augenblicke, bis aus dem Inneren der Tür ein schweres, schabendes Geräusch zu hören war. Ein verborgener Mechanismus setzte sich in Gang, dann schwang die gewaltige Tür beinahe lautlos vor Jandhi zurück. Tally sah, daß sie fast einen Meter stark war.

Dann sah sie für Sekunden gar nichts mehr, denn der Raum dahinter war von gleißender weißer Helligkeit erfüllt, die ihre an das schwache Licht gewöhnten Augen für Momente blind sein ließen. Selbst Jandhi wurde zu einem verschwommenen Schatten, dessen Konturen sich im grellen Licht wie in leuchtender Säure aufzulösen schienen.

Einer der beiden Hornköpfe gab ihr einen Stoß, der sie weiterstolpern ließ. Ganz instinktiv breitete sie die Arme aus, fühlte kühles glattes Leder und klammerte sich an Jandhis Arm fest, um nicht zu stürzen.

Der Hornkopf stieß ein wütendes Zischen aus, packte sie mit drei seiner vier Arme und riß sie zurück. Tally versuchte sich loszureißen, aber gegen die gewaltigen Körperkräfte des Insektenwesens hatte sie keine Chance.

»Laß sie los!« befahl Jandhi scharf. »Das war kein Angriff!«

Der Griff der harten Insektenklauen lockerte sich, aber nur ein wenig und auch nur für einen ganz kurzen Moment. Dann riß er Tally noch einmal und noch heftiger zurück und beantwortete Jandhis Befehl mit einem agressiven Pfeifen.

»Zum Teufel, du sollst sie loslassen!« befahl Jandhi noch einmal. Wütend trat sie auf Tally und den Hornkopf zu und machte eine herrische Geste. Und endlich lösten sich die hornigen Insektenklauen von Tallys Armen und Hals.

»Es tut mir leid«, sagte Jandhi, nun wieder an sie gewandt. »Sie sind so dumm, wie sie stark sind. Und sie sind sehr stark.«

Tally schwieg. Ihre Augen begannen sich allmählich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und was sie sah, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die Höhle war gigantisch - groß genug, eine kleine Stadt hineinzubauen, was irgend jemand auch getan hatte. Der Eingang lag nicht ebenerdig, sondern fast auf halber Höhe der an die hundert Meter messenden, steinernen Kuppel, so daß Tally die phantastische Anlage zur Gänze überblicken konnte: die Höhle wirkte wie eine verkleinerte und nach außen gestülpte Ausgabe des Berges, in dessen Herz sie lag.

Auf dem Boden erhoben sich schwarzbraune, sonderbar asymmetrisch wirkende Bauwerke, die Tally an Insektennester erinnerten - und es wohl auch waren -, und in den Wänden gähnten Dutzende, wenn nicht Hunderte unterschiedlicher großer und tiefer Löcher.

Manche von ihnen waren Gänge, die tiefer hinein ins gewachsene Gestein des Berges führten, andere erweiterten sich zu großen, von düsterrotem Fackellicht erfüllten Sälen, in denen gepanzerte Gestalten von phantastischem Aussehen unverständliche Dinge taten; wieder andere waren nur lichtlose Schächte, die einen Meter, aber auch eine Meile tief sein mochten.

Und überall Hornköpfe.

Wohin Tally auch sah, erblickte sie die schwarzen und brauen Insekten, viele davon Spezies angehörend, von denen sie noch niemals gehört hatte. Überall krabbelte und wogte und bewegte es sich. Das Scharren Millionen stahlhart gepanzerter Füße und Leiber lag wie eine bizarre Musik in der Luft.

Und über allem lag die Nähe des Feindes wie ein düsterer Atem.

Abermals drängte sich Tally der Vergleich mit einem gewaltigen, finsteren Herzen auf, ein schwarzes Zentrum ruhig pulsierender, düsterer Energien, das diesen Berg, seine Bewohner, vielleicht sogar die ganze Welt, beherrschte und lenkte.