Und das Gefühl, das sie schon seit langem beschlichen hatte, wurde immer drängender und klarer - daß nämlich selbst Jandhi und ihre Drachen nur Spielzeuge einer anderen, weit höheren Macht waren.
Jandhi berührte sie beinahe sanft am Arm und deutete nach links. Tally blickte gehorsam in die Richtung und erkannte, daß der Weg noch nicht zu Ende war: eine schmale, sehr steile steinerne Treppe führte neben ihnen in die Tiefe und endete vor einer weiteren Tür aus Stahl, die vielleicht noch massiver war als die, durch die sie gerade getreten waren. Ganz instinktiv fragte sie sich, warum die Türen hier unten so massiv waren. Beschützten sie das, was dahinter lag, vor der Welt? Oder die Welt vor dem, was sie verbargen?
»Wohin... bringst du mich?« fragte sie zögernd.
Plötzlich hatte sie Angst, ganz entsetzliche Angst, wenn auch aus völlig anderen Gründen, als Jandhi annehmen mochte.
Sie bekam auch diesmal keine direkte Antwort, aber zumindest spürte Jandhi ihre Erregung und ging nicht einfach wortlos weiter, wie die beiden Male zuvor, sondern drehte sich noch einmal zu ihr um und lächelte; auf eine Art, die Tally unter allen anderen denkbaren Umständen zur Weißglut getrieben hätte. Jetzt machte sie ihr Angst.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie, so sanft und nachsichtig, als redete sie mit einem verschüchterten Kind. »Ich habe mir nicht diese ganze Mühe gemacht, um dich jetzt zu töten, weißt du?«
»Wo sind Angella und Hrhon?« fragt Tally. »Ich möchte sie sehen.«
»Später«, antwortete Jandhi. »Sie sind in Sicherheit - keine Sorge. Niemand wird ihnen etwas tun. Du wirst sie sehen, aber nicht jetzt. Jetzt ist keine Zeit dazu. Sie wartet nicht gerne.«
»Sie?« Tally wich ganz instinktiv einen Schritt vor Jandhi zurück. »Wer ist das?«
»Komm mit, und du wirst es erfahren«, erwiderte Jandhi. In ihrer Stimme lag nun eine schwache, aber unüberhörbare Spur von Ungeduld - und der unausgesprochene Hinweis, daß sie Tally auch ebensogut zwingen konnte, ihr zu folgen.
Tally verstand beides. Nach einem letzten Blick auf die wimmelnde schwarzbraune Tiefe unter ihr folgte sie Jandhi. Die beiden Hornköpfe schlossen sich ihnen lautlos an.
Die Tür schwang auf, ehe sie sie erreicht hatten.
Dahinter lag ein vielleicht zwanzig Schritt langer, sehr niedriger Gang.
Und hinter ihm der Pfuhl.
Es gab keinen anderen Ausdruck dafür, kein anderes Wort, das dem, was sich Tally bot, auch nur annähernd entsprochen hätte. Und auch er reichte nicht wirklich aus, den tödlichen Schrecken, das abgrundtiefe Entsetzen zu beschreiben, das Tally beim Anblick des Unbeschreiblichen überfiel.
Die Höhle war riesig - eine hundert Meter messende Halbkugel aus schwarzem Stein, deren Wände von Fäulnis und Schimmel zerfressen waren. Die Luft stank nach Aas und Verwesung und war von flackernder, irgendwie krank wirkender grüner Helligkeit erfüllt. Tausende von schwarzen, wimmelnden Insekten bedeckten die Wände wie ein lebender Teppich, unbeschreibliche Dinge herbei- und hinwegschleppend, hingen in großen lebenden Trauben von der Decke oder ballten sich auf dem Boden vor Tally zu pulsierenden Knäueln. Zwischen ihnen erhoben sich ganze Berge von halbverfaultem Aas, tierische - aber auch ein paar menschliche!! - Kadaver, verwest und abgenagt und mit einem widerlichen, grünlichschwarzem Schleim überzogen.
Und im Zentrum dieses Kreises aus Entsetzen und Ekel hockte das Ungeheuer.
Tally wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Der bloße Anblick der Kreatur lähmte sie, zerschmetterte ihren Willen wie ein Hammerschlag dünnes Eis, löschte ihr Bewußtsein aus, ließ nichts übrig als ein winziges hilfloses Teil, in dem für nichts anderes Platz war als Ekel und Entsetzen und Abscheu und Angst, Angst, Angst, Angst...
Sie war eine Gigantin. Jedes einzelne ihre acht kalten, tausendfach gebrochenen Facettenaugen war größer als Tally, jedes einzelne der borstigen, halbverkümmerten Beine ein Baum, bedeckt mit drahtigem Fell, das wie schwarzer Stahl glänzte, der absurd aufgedunsene Hinterleib groß wie ein Schiff, von armdicken, rasch pulsierenden Adern überzogen, in denen selbst wiederum etwas Kleines, Dunkles, Körniges zu krabbeln schien.
Ekel, unbeschreiblicher Ekel packte Tally, schüttelte sie wie Fieber und fegte für einen Moment selbst ihre Furcht hinweg. Sie taumelte, stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und versuchte mit aller Kraft, den Blick von der hundert Meter großen Scheußlichkeit zu lösen, weil sie spürte, daß allein der Anblick sie töten würde, mußte sie ihn noch lange ertragen.
Sie konnte es nicht. Der Blick der titanischen Kreatur lähmte sie, machte sie hilflos, bannte sie. Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht atmen. Nicht denken. Ihr Herz schlug nicht.
Und dann spürte sie, wie irgend etwas in sie hineingriff, eine ungeheuerliche, unsichtbare Hand, kalt wie gefrorenes Glas und ebenso schneidend, in ihre Gedanken drang, sie sondierte und prüfte, tiefer glitt, sich mit der erbarmungslosen Präzision einer Maschine in ihr Bewußtsein wühlte, jeden einzelnen ihrer allergeheimsten Gedanken las und abwog...
... und zurückprallte!
Und im gleichen Augenblick erwachte das Ungeheuer in ihr. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber für Tally verging eine Ewigkeit.
Sie spürte, wie sich das Ungeheuer vor ihr aufbäumte, seinen entsetzlichen Leib vielleicht zum erstenmal seit einem Jahrtausend bewegte, in einer grauenerregenden, entsetzten Bewegung zurückprallte, als es begriff, was Tally mit sich brachte. Und sie spürte, wie irgend etwas in ihr barst, ein Kokon, unsichtbar und lauernd bisher, finsterpulsierende Energien, die sie unbemerkt in sich gehabt hatte, wie die Trägerin einer tödlichen Krankheit.
Und im gleichen Moment, noch immer im selben, zeitlosen Augenblick, begriff sie.
Es war dieses... Ding, dessen Nähe sie gespürt hatte, die schwarze Riesin, deren Geist diesen Berg durchflutete wie stinkender Atem. Nicht Jandhi und ihre Drachen waren die wahren Herrscher dieser Insel - sondern sie!
Jandhis Geschichte war wahr, und doch war sie so falsch, wie sie nur sein konnte. Und sie wußte es vermutlich selbst nicht einmal. Sie hatte von den Überlebenden gesprochen, von den Nachfahren des letzten Krieges, die nach tausend Jahren zurück ans Tageslicht gekrochen waren, um das Erbe der untergegangenen Menschen anzutreten.
Aber sie hatte Tally nicht gesagt, wer diese Überlebenden gewesen waren.
Sie waren keine Menschen gewesen.
Es waren die Insekten.
Hornköpfe. Schwarze chitingepanzerte Ungeheuer, die den Weltuntergang tief verborgen im Inneren der Erde überstanden hatten und hervorkrochen, lange bevor der erste Mensch es wagte, seinen Schutz zu verlassen. Mutierte Bestien, vielleicht durch die entfesselten Urgewalten menschlicher Waffen zu dem geworden, was sie jetzt waren, die antraten, den uralten Kampf um die Vorherrschaft auf dieser Welt zu entscheiden.
Und sie hatten ihn entschieden. Sie waren es, die sich selbst zu Sklaven machten und doch herrschten. Sie waren es, die unerkannt unter den anderen Rassen und Völkern lebten, dumme Tiere, Lastenträger und Krieger, die doch in Wahrheit an den Fäden des Schicksales zogen. Sie waren es, die die Töchter des Drachen erschufen, die Drachen selbst und Männer wie Hraban. Besäen wie diese, titanische, unsterbliche Rieseninsekten, körperliche Monstrositäten mit den Gehirnen von Göttern, die wußten, daß sie den Menschen und die anderen Bewohner dieser Welt brauchten, um zu überleben, und die wußten, daß er sie vernichten würde, sollt er jemals ihr wahres Selbst erkennen. Und jemals die Macht dazu haben.
Bestien wie diese waren es, die den Befehl zur Vernichtung jeglichen menschlichen Fortschrittes gegeben hatten und ihn weiter geben würden. Die wahren Herrscher der Welt waren nicht die Menschen, nicht Jandhis Drachenreiterinnen und ihre fliegenden Giganten, sondern die Hornköpfe sein, ein riesiges Heer stumpfsinniger Kreaturen, das zusammen ein einziges, ungeheuerliches Bewußtsein bildete, vielleicht diese ganze Welt umspannend.