Tally krümmte sich, als all dieses Wissen über sie hereinbrach, mit der Gewalt einer Sturzflut und gesprochen von der Stimme eines Gottes. Der Stimme Gäas, des zweiten, ungeheuerlichen Monstrums, das draußen unter dem Schlund lag und wartete, so alt wie diese Welt, tausendmal älter als der Mensch und vom ersten Tag an der Erzfeind der Insekten. Sie schrie, als sie begriff, daß sie zum Spielball einer anderen, ebenso erbarmungslosen Macht geworden war, eine Waffe wie Jandhi und ihre Drachen, nur viel tödlicher. Vielleicht war es von Anfang an so geplant. Vielleicht war nichts Zufall gewesen, von allem, was geschehen war.
Das Ungeheuer hinter ihr begann zu toben. Die Höhle bebte, als es sich aufbäumte, zuckend, schreiend, schwarzen Schleim und Blut und Kot verspritzend wie ein lebender Geysir, während ihr aufgedunsener Hinterleib noch immer Eier ausspie, unfähig seit zehntausend Jahren, damit aufzuhören; eine boshafte Karikatur des Lebens, die nur noch zu zwei Dingen fähig war: Denken und Gebären. Eines der baumdicken Beine zerbrach wie Glas. Das Ungeheuer brüllte, neigte sich zur Seite und stürzte, kreischend vor Schmerz und Angst, als es begriff, was Tally war.
Und dann, für einen ganz kurzen Moment, fand sie noch einmal in die Wirklichkeit zurück. Das unsichtbare Etwas in ihr zog sich zurück, entließ ihren Geist noch einmal aus seinem Würgegriff, als es Kraft zum letzten, entscheidenden Hieb sammelte. Für Sekunden fand Tally die Kontrolle über ihren Körper zurück.
Taumelnd bewegte sie sich auf Jandhi zu, streckte die Hände nach ihr aus und fiel, als ihre Kräfte versiegten.
Die beiden Hornköpfe neben ihr pfiffen vor Angst, begannen zu toben, wie außer Kontrolle geratene schreckliche Maschinen, als die Angst der Insektenkönigin in ihre Köpfe kroch, und auch Jandhi schrie auf, prallte gegen die Wand und schlug beide Hände gegen die Schläfen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie Tally anstarrte.
Die Höhle verwandelte sich in ein Chaos. Der Teppich aus lebenden Insekten zerbarst, als wären tausend Vulkane unter dem Boden ausgebrochen. Die Insektenkönigin schrie, bäumte sich abermals auf und fiel hilflos zurück, Tausende ihrer Diener unter sich zermalmend.
Etwas Schwarzes, ungeheuer Großes wogte auf sie zu.
»Jandhi!« schrie Tally. »Lauf! Flieh! Nimm deine Drachen und flieh!«
Ihre Stimme ging im Kreischen der Insektenkönigin unter. Aber selbst, wenn Jandhi die Worte verstanden hätte, hätte sie kaum mehr darauf reagiert. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Geist frei gewesen, und vielleicht hatte sie sogar begriffen, daß sie und die anderen nichts als Werkzeuge gewesen waren, willenlose Spielzeuge dieser schwarzen Abscheulichkeit, deren Gedanken ihren Willen und ihren Geist beherrschten.
Aber der Augenblick verging, und Tally konnte sehen, wie der Funke von freiem Willen in ihrem Blick wieder erlosch. Ihre Hand kroch zum Gürtel und dem Laser, den sie darin trug.
Im gleichen Moment hörten auch die beiden Hornköpfe auf zu toben. Ihre gepanzerten Hände hoben sich.
Tally sprang. Eine Klaue streifte ihren Rücken und riß ihn auf, eine andere grub sich in ihre Wade und biß ein Stück Fleisch heraus. Aber irgend etwas in ihr gab ihr Kraft, schaltete den Schmerz ab, übernahm das Kommando über ihren Willen. Ihre Hand schoß vor und schlug die Jandhis beiseite, einen Sekundenbruchteil, ehe sie gegen sie prallte und aus dem Gleichgewicht brachte. Jandhi schrie auf, taumelte gegen die Wand und schlug nach Tallys Gesicht.
Und das Ungeheuer in ihr erwachte erneut - und diesmal endgültig.
Es war nicht mehr Tally, die auf Jandhi zusprang und ihr mit einem einzigen Hieb wie eine zerbrochene Puppe zur Seite schleuderte. Sie war endgültig zu dem geworden, wozu Gäa sie ausersehen hatte, vielleicht schon vor ihrer Geburt: einer Waffe. Einem Spielball im ewigen Kampf der beiden Giganten, der zwischen ihnen zermalmt werden mußte.
Sie fing die Stürzende auf und riß den Laser aus ihrem Gürtel. Sie feuerte die Waffe ab, noch ehe sie Jandhi losließ. Der dünne, weiße Blitz schwenkte herum wie ein Schwert aus Licht, zerschnitt die beiden Hornköpfe säuberlich in zwei Teile und wanderte weiter, brannte eine rotglühende Schlackespur in den Boden und die Masse aus Millionen von Insekten, die auf Tally zuflutete, und näherte sich der Königin.
Das Rieseninsekt bäumte sich in irrsinniger Qual auf, als der Lichtblitz in sein rechtes Auge stach und es in einen Tümpel aus kochendem Fleisch und Blut verwandelte. Der Strahl tastete weiter, ließ auch das andere Auge erlöschen und sengte eine handbreite, rotglühende Spur in den Schädel, weiter über den Nacken und den absurd kleinen, dreifach untergliederten Leib, zerschnitt die beiden noch unversehrten Insektenbeine auf der Tally zugewandten Seite und näherte sich dem aufgequollenen Hinterleib des Ungeheuers, der noch immer Eier ausspie.
Dann hatte der lebende Teppich Tally erreicht und überflutete sie. Der Laser in ihrer Hand erlosch, als ihre Beine nachgaben und sie fiel.
Sie starb, und sie starb schnell, aber in der endlosen Sekunde, die sie noch lebte, sah sie, wie das Heer der Insekten an ihren Beinen emporkroch, schnell wie eine Springflut aus schwarzem Wasser, Fleisch und Knochen zermalmend mit Millionen winziger rasiermesserscharfer Kiefer. Sie sah, wie sich ihr Körper auflöste, zu rotem pulsierendem Schmerz wurde und verschwand, während die entsetzliche Flut höher kroch. Der Schmerz war unbeschreiblich, aber er dauerte nicht lange, und irgend etwas in ihr schützte sie auch davor; oder ließ ihn wenigstens unwichtig werden. Denn sie sah auch das, was sie gebracht hatte, den Keim der Vernichtung, der tief in ihr schlummerte, und der zu Ende bringen würde, was sie begonnen hatte.
Sie war tot, ehe sie nach vorne fiel und in der wirbelnden Masse aus Beinen und Kiefern und winzigen harten Leibern versank.
Aber ihr letzter Gedanke war, daß sie ihre Rache vollzogen hatte.
Und eigentlich hatte sie gerade erst damit begonnen.
Da waren Geräusche. Sonderbare Laute, die aus einer fremden Welt zu stammen schienen, die keinen Bezug zu der ihren hatte: ein Kratzen und Schaben und Scharren an der Tür, dann etwas wie eine Stimme, die etwas wie Worte produzierte, ohne daß sie sie verstand.
Angella hatte Fieber. Ihre Stirn glühte, und ihre Gedanken begannen sich jetzt immer öfter zu verwirren, auf Wegen zu wandeln, auf die sie keinen Einfluß mehr hatte. Manchmal schrak sie hoch und spürte, daß Zeit vergangen war, sehr viel Zeit, ohne daß sie sich auch nur an eine einzige Sekunde erinnern konnte. Sie wußte längst nicht mehr, wann sie das letzte Mal Licht gesehen hatte - oder gegessen oder getrunken. Sie wußte nur, daß man sie sterben lassen wollte. Ewige Nacht umgab sie, eine Dunkelheit, die in nicht mehr allzu ferner Zukunft in die Schwärze des Todes übergehen würde.
Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wäre sie nicht gefesselt. Aber sie war es, ebenso wie Hrhon, dessen Stöhnen von Zeit zu Zeit durch die Dunkelheit drang und das einzige Geräusch war, das ihr verriet, daß sie noch lebte. Ihre Handgelenke steckten in eisernen Ringen, die mit einer kurzen Kette am Boden befestigt waren, so daß ihr gerade genug Platz blieb, sich von Zeit zu Zeit zu bewegen und ihren wundgelegenen Rücken zu entlasten; oder sich wenigstens einzureden, es zu tun.
Wie lange lag sie schon hier? Tage? Sie wußte es nicht, und je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto stärker wurde die Verwirrung. Sie hatte Fieber, Hunger, und Durst vor allem. Sie wußte nichts mehr, außer diesen beiden Tatsachen: Daß sie Hunger und Durst hatte und sterben würde. Und daß man sie offensichtlich hierhergebracht hatte, um sie elend zugrunde gehen zu lassen.