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Während des ersten Tages - nein, verbesserte sie sich in Gedanken: eigentlich nur während der ersten Stunden - hatte man dem Waga und ihr zu essen und zu trinken gebracht, aber schon nach der zweiten Mahlzeit war die Tür verschlossen geblieben; und sie hatte sich auch nicht mehr geöffnet, bis jetzt. Kurz darauf hatte sie geglaubt, Lärm zu hören: Schreie und dumpfe Explosionen, das helle Peitschen von Lasern und die spitzen Pfeiflaute kämpfender Hornköpfe. Irgend etwas war sogar gegen die Tür ihrer Zelle gepoltert. Aber sehr bald darauf war wieder Ruhe eingekehrt.

Angella hatte die Möglichkeit sehr lange erwogen, daß es im Berg zu einem Kampf gekommen sein könnte, in dessen Verlauf man sie und Hrhon einfach vergessen hatte. Aber so verlockend der Gedanke war - er konnte nicht richtig sein. Wogegen sollten sie kämpfen? Es gab niemanden, der stark genug gewesen wäre, ihnen die Stirn zu bieten, erst recht nicht hier, in diesem verfluchen Berg. Es gab ja nicht einmal jemanden, der närrisch genug gewesen wäre, es zu versuchen, ausgenommen vielleicht Idioten wie sie selbst oder Tally, die -

Eine dumpfe Wut ergriff von Angella Besitz, als sie an Tally dachte. Wut auf sie, aber auch auf sich selbst, daß sie nicht auf ihre innere Stimme gehört und ihr die Kehle durchgeschnitten hatte, als noch Zeit dazu war.

Jetzt war es zu spät. Der Tod hatte bereits bei ihr angeklopft; mehr noch - er hatte bereits einen Fuß in der Tür, und Angella war nicht sicher, daß sie sie noch einmal zuschlagen konnte. Der dumpfe Druck, die Fieberphantasien und die Vision waren Anzeichen des beginnenden Deliriums, und sie wehrte sich nicht einmal mehr dagegen. Ganz im Gegenteil - sie sehnte es herbei, denn egal wie schrecklich es sein mochte, es wäre zu Ende, danach.

Wahrscheinlich wäre sie längst gestorben, wäre da nicht dieser Riß in der Decke über ihr gewesen, durch den von Zeit zu Zeit Wasser floß, wenige, bitter schmeckende Tropfen, die wie durch Zufall genau auf ihr Gesicht fielen, so daß sie immer wieder Lippen und Zunge damit benetzen konnte. Angella war sich des Umstandes vollkommen bewußt, daß sie ihre Qual dadurch nur verlängerte - aber der Durst war stärker als das bißchen Vernunft, das ihr geblieben war. Jedesmal, wenn die Tropfen auf ihr Gesicht fielen, leckte sie sie gierig auf; obgleich jeder einzelne davon nicht die Rettung, sondern nur eine weitere Stunde voller entsetzlicher Pein bedeutete.

Wieder glaubte sie diese Geräusche zu hören; näher diesmal, gleichzeitig undeutlicher, als gäbe es da einen Filter, der sich zwischen die Wirklichkeit und sie geschoben hatte. Ihre Sinne begannen sich stärker und stärker zu verwirren: für einen Moment glaubte sie Tallys Stimme zu hören, dann gar sie selbst zu sehen, aber es war nicht Tally, sonder etwas ganz anderes, ein entsetzliches Ungeheuer, das nur in Tallys Körper geschlüpft war, und...

Der Gedanke entglitt ihr, bevor sie ihn zu Ende denken konnte. Die Vision wurde stärker. Sie glaubte Licht zu sehen, ein wunderschönes, sanftes Licht, das ihren Augen aber weh tat, weil sie so lange nichts als Dunkelheit gesehen hatte. Dann glitt sie wieder hinein in den schwarzen Abgrund, der sich dort aufgetan hatte, wo ihre Gedanken sein sollten. Das nächste, was sie wahrnahm, war die Berührung sanfter Hände, die irgend etwas mit ihrem Gesicht taten. Es schmerzte; gleichzeitig tat es unglaublich gut.

Kaltes Metall berührte ihre Lippen, dann ergoß sich ein Strom unglaublich wohlschmeckenden Wassers in ihren Mund. Sie trank; so gierig, daß sie sich verschluckte und die kostbare Flüssigkeit fast zur Gänze wieder erbrach.

Aber sofort war das Metall wieder da, und das Wasser, das das Leben in ihren Körper zurückspülte.

Sie versuchte die Lider zu heben. Zwei gleißende Dolche aus Licht stachen in ihre Augen. Sie stöhnte, preßte die Lider wieder zusammen und trank weiter. Seltsam - sie hatte immer gedacht, der Tod brächte die große Dunkelheit. Wieso war es hell?

Es war diese Frage, die sie zum erstenmal auf den Gedanken brachte, daß es vielleicht nicht der Tod war.

Und daß die Vision wahr sein konnte. Sie hatte Tallys Stimme gehört!

Mit einem Ruck öffnete sie die Augen.

Das Licht tat weh, aber sie konnte sehen.

Sie befand sich noch immer in der Zelle, in die man Hrhon und sie vor einer Million Jahren eingesperrt hatte, aber sie war nicht mehr gefesselt. Die Tür stand weit offen, und gelbes warmes Licht fiel herein. Die stählernen Ringe, die ihre Hand- und Fußgelenke gebunden hatten, waren durch saubere weiße Verbände ersetzt worden, ihr Kopf lag auf frischem Stroh, und ein schwarzer Mantel bedeckte ihren fiebergeschüttelten Körper.

Tally saß neben ihr, eine metallene Schale mit Wasser in der linken und einen sauberen Lappen in der rechten Hand, mit dem sie von Zeit zu Zeit ihre Stirn betupfte.

Hinter ihr, schon wieder halb von der Dunkelheit verschlungen, erhob sich ein gepanzerter massiger Schatten: Hrhon. Sie mußte sehr lange so dagelegen haben, seit ihre Fesseln gelöst worden waren.

Angella versuchte zu sprechen, aber es gelang ihr erst, nachdem Tally abermals die Schale an ihre Lippen gesetzt und ihr zu trinken gegeben hatte. Sie fühlte sich schwach.

So unendlich schwach. Selbst zu schwach, um Erleichterung zu empfinden.

»Du... verdammte... Närrin«, stöhnte sie. Die wenigen Worte kosteten ihre ganze Kraft. Ihre Lippen platzten. Salziges Blut mischte sich in das kalte Wasser auf ihrer Zunge. Trotzdem sprach sie weiter. »Bist... du... jetzt ... zufrieden?«

Tally blickte sie sehr ernst an. Sie lächelte, aber es war nur ein bloßes Verziehen der Lippen. Der Ausdruck in ihren Augen war Sorge. Und - ja, und noch etwas. Etwas, das Angella nicht verstand. Aber es machte ihr Angst.

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Gut, das... das siehst du doch.« Angella versuchte zu lachen, aber ihre Schwäche ließ ein qualvolles Husten daraus werden. »Wieso lebst du noch?« stöhnte sie. »Und wo warst du die ganze Zeit, verdammt noch mal?«

»Welche Frage soll Tally zuerst beantworten?« fragte Tally ruhig.

Angela blickte sie irritiert an. Das schwache Licht zauberte Schatten auf Tallys Züge, wo keine sein durften, und Angellas eigene Schwäche fügte Linien des Schreckens hinzu: für einen kurzen, aber entsetzlichen Moment war es nicht mehr Tally, die neben ihr saß, sondern ein abscheuliches Ding mit Tallys Zügen, ein grinsender Totenschädel, eingesponnen in ein Netz feiner weißer Fäden, die pulsierten und sich wanden wie Milliarden haarfeiner lebender Würmer. Dann drehte Tally das Gesicht wieder ins Licht, und die entsetzliche Vision verschwand. Aber die Angst blieb.

»Die Schwäche wird bald vergehen«, fuhr Tally fort. »Du bist erschöpft, aber nicht ernsthaft verletzt.«

»Was zum Teufel ist passiert?« murmelte Angella. »Wo warst du die ganze Zeit?«

»Tally hat getan, wozu sie hergekommen ist«, antwortete Tally geheimnisvoll. »Es tut ihr leid, wenn ihr leiden mußtet. Aber es hat lange gedauert, Hrhon und dich zu finden.«

Und es dauerte auch lange, bis Angella den Sinn von Tallys Worten begriff. Und als sie es tat, da war der Gedanke ein solcher Schock, daß sie sich aufsetzte und für einen kurzen Moment selbst ihre Schwäche vergaß. Aber wirklich nur für einen kurzen Moment. Dann wurde ihr übel und schwindelig zugleich, und sie brach in Tallys Armen zusammen.

»Hab Geduld«, sagte sie. »Dein Körper braucht Zeit, die verlorenen Kräfte zu regenerieren. Er ist sehr verwundbar, weißt du? Aber du bist auch stark. Gib dir selbst ein wenig Zeit, und Tally wird dich hier herausbringen.«

Irgend etwas war falsch, dachte Angella. Entsetzlich falsch. Aber sie wußte nicht, was.

»Rausbringen?« murmelte sie. Aber wieso? Es war nicht möglich. »Jandhi. Was... was ist mit Jandhi... und ihren Drachen?«